Paula Hogitsch war am Ende ihrer Karriere. Doch leider nicht nach dem 14. Werk, sondern davor.
Am nächsten Tag machte sich Paula auf den Weg. Ihr wurde schlagartig klar, dass sie unter Zwang stand, mit Peter klar Schiff zu machen. Ohne sich anzukündigen, setzte sie sich in ihr Auto und fuhr nach Wien Hütteldorf, wo sie ihr Fahrzeug abstellte und die U4 bis Pilgramgasse bestieg. Gesundheitlich fühlte sie sich besser als am Tag davor, was sie zur Annahme brachte, die lange Fahrt hin und retour problemlos auf sich nehmen zu können. Vorsichtshalber führte sie den Schlüssel für ihre Wiener Wohnung mit, sollte sie nicht mehr in der Lage sein, die Rückreise am Nachmittag anzutreten.
In der U-Bahn beobachtete sie die Menschen, die ein- und ausstiegen, in Gedanken versunken und geistig bei einer Besprechung, dem Feierabend oder der Familie waren. Sie liebte es, ihr Gegenüber und andere Umstehende genau zu mustern, Stimmungen zu erfassen und sich Geschichten zu den Gesichtern zusammenzureimen. Dazwischen gab es die eine oder andere Person, die ihrerseits Paula länger musterte und sie als Schriftstellerin entlarvte. Ab und an war es bis dato passiert, dass man sie ansprach und um ein Autogramm bat oder ihr unaufgefordert Kommentare zu ihren Werken mit auf den Weg gab.
Von der U-Bahn-Station der Pilgramgasse nahm sie das letzte Stück zu Fuß zum Verlagssitz, der sich seit jeher in der Lindengasse im 7. Bezirk, dem Kreativzentrum der Stadt, befand. Paula liebte die Gegend und hatte jahrelang überlegt, ihre Wohnung in Margareten zu verkaufen und sich stattdessen als Zweitwohnsitz in Wien Neubau niederzulassen. Die Preise, die man in der Hauptstadt mittlerweile für Immobilien bezahlte, hielten sie hingegen davon ab.
Immer wenn Paula in der Stadt unterwegs war, inhalierte sie die Atmosphäre, als verweilte ein Großstädter am Land, der zum ersten Mal wieder den betörenden Geruch von Wald, Wiese und Tieren wahrnahm. Obwohl sie das besinnliche Landleben liebte, wie sie es mit ihrer Familie führte, vermisste sie die kreative Luft, die durch die Gassen wehte, die zahlreichen Möglichkeiten, die die Stadt zur Unterhaltung bot, sowie die charmante Grantigkeit, die einen unabdingbaren Teil des Wiener Kosmos darstellte.
Kurz kam ihr der Einfall, in jener Umgebung derzeit kreativer sein zu können als auf dem Land, verwarf ihn jedoch wieder, als ihr der bloße Gedanke an das Konzept einen imaginären Schlag in die Magengrube bescherte. Zügig überquerte sie die Mariahilfer Straße, ohne dieses Mal im Thalia auf Bücher-Beutefang zu gehen. Obwohl es für sie üblicherweise zu einem Wien-Besuch dazugehörte, sich zumindest für eine Stunde der Literatur in ihrer Lieblingsbuchhandlung, wo damals alles begonnen hatte, zu verlieren, setzte sie ihren Weg zum Verlag unbeirrt fort und verzichtete auf eine fantasievolle Pause.
„Peter, ich …“
„Paula! Schön, dass Sie persönlich vorbeikommen. Sie wollen mir das Konzept unbedingt direkt übergeben, nicht? Gut so. Ich würde da ohnehin gerne noch etwas mit Ihnen besprechen. Denken Sie, es ist geschickt, wenn der Mörder ein Jungspund ist, oder soll er doch lieber schon etwas gesetzter sein? Christopher meint, ein älterer Übeltäter wäre vielleicht besser, aber ich bin mir da nicht sicher. Einen ganz jungen Mörder hatten wir noch nie …“
„Peter!“ Paula unterbrach seinen Redeschwall. Das war typisch für den Verlagsleiter, der nur das hörte, was ihm auch zusagte.
„Oh. Entschuldigen Sie. Sie wollten etwas sagen. Also, jung oder alt?“
Nie schaffte er es, seine Bedürfnisse in den Hintergrund zu stellen und sich nur auf sein Gegenüber und dessen Anliegen zu konzentrieren.
„Weder noch. Ich wollte Ihnen mitteilen, dass ich es nicht fertigbringe.“
„Was? Einen jungen Mörder zum Leben erwecken? Aber Paula!“
„Peter, bitte! Hören Sie mir einfach zu. Es ist wichtig, dass Sie mich jetzt reden lassen.“ Endlich hatte Paula seine Aufmerksamkeit. Peter wurde leicht rot und versuchte, sich seine Verärgerung über die Ablenkung nicht anmerken zu lassen.
„Ich habe mir das überlegt. Ich schaffe es einfach nicht. Es ist an der Zeit, mich endlich auf meine Familie zu konzentrieren und das Schreiben ad acta zu legen. Ich habe einfach nicht mehr die Muße dazu.“
Paula war völlig klar, dass ihre Worte in Peters Ohren keinen Sinn ergaben. Nach ihrem letzten Werk konnte sie all das, was sie nun aufzählte, bis an ihr Lebensende machen und sich Tag und Nacht mit ihrer Familie beschäftigen. Außerdem hatte sie bis dato noch nie damit zu kämpfen gehabt, einer Aufgabe nicht gerecht zu werden oder unter Schreibblockaden zu leiden. Sie merkte, dass sie ihn nicht mit einer Lächerlichkeit wie jener abspeisen konnte, und gestand sich ein, ihm die Wahrheit zu schulden. Schließlich befand sie sich in einem aufrechten Vertragsverhältnis mit dem Verlag und hatte Verpflichtungen. Doch als wollte sie den Mann, der ihr vor Jahren mit der Kündigung der Zusammenarbeit so wehgetan hatte, hinhalten und für dumm verkaufen, spielte sie auf Zeit und wartete dessen verdutzte Reaktion ab.
„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“ Er verstand es, seinem Ärger mit den Augen und nur wenigen Worten auf eine Art Ausdruck zu verleihen, die jeden einschüchterte. Mit Peter Biber spielte man keine Spielchen.
„Okay, tut mir leid.“ Was rede ich, dachte Paula, ich bin diejenige, die Verständnis verdient. Dann holte sie tief Luft und blickte dem Verlagsleiter entschlossen ins Gesicht. Ihr war bewusst, dass es nur zwei Möglichkeiten gab: den Roman zu schreiben und ihren kranken Körper mit dem Druck, einen Abschlussbestseller zu verfassen, zu belasten oder Peter Biber jetzt die Wahrheit zu gestehen. Ihrer Gesundheit zuliebe entschied sie sich für Letzteres.
„Ich bin schwer krank“, sagte sie mit fester Stimme, wobei ihre Worte durch den Raum schossen wie Pingpong-Bälle.
„Was?“ Die Miene ihres Gegenübers änderte sich schlagartig. „Was … was haben Sie da gerade gesagt?“
Zum ersten Mal, seit sie Peter kannte, kam es ihr so vor, als interessierte er sich für Paula, den Menschen, und nicht für die Erfolgsautorin.
„Es ist Krebs. Ich will nicht darüber reden.“
Peter war erschüttert. Zahlreiche Charaktere hatte Paula Hogitsch in ihren Romanen mit Worten ums Leben gebracht, doch jetzt befand sie sich selbst im Angesicht des Todes. Der Verlagsleiter räusperte sich verlegen, als er bemerkte, dass er gedanklich schon die Schlagzeile ihres Nachrufs formulierte. Und dann glaubte er, etwas anderes an Paula zu bemerken: Die immer leicht spröde wirkende Schriftstellerin erkannte, dass sie sich ebenso vor dem Sterben fürchtete wie ihre Figuren, die ihrem grausamen Schicksal hilflos ausgeliefert waren. Die sie dieser Angst aussetzte.
Paula bat ihn inständig darum, es niemandem zu erzählen und besonders den Medien gegenüber Diskretion zu wahren. Die Information, dass die große Schriftstellerin Paula Hogitsch an Krebs litt, sollte keinesfalls das Verlagshaus verlassen. Sie hatte ihn nicht eingeweiht, weil sie ihm so vertraute, sondern nur deswegen, weil sie ihm durch die schriftliche Abmachung mit dem Verlag die Wahrheit schuldete. Nie und nimmer hätte er es akzeptiert, wäre sie ohne Angabe triftiger Gründe vom Vertrag zurückgetreten.
Es würde ein Geheimnis zwischen ihm und wenigen eingeweihten Verlagsmitarbeitern bleiben, dass das 14. Werk von Paula Hogitsch nicht von ihr selbst stammte – denn eines war sicher: Es musste erscheinen. Die Fans warteten bereits ungeduldig auf den überall angekündigten neuen Roman.
Kapitel 3 – Die Suche
August 2008
Peter Biber wusste, was zu tun war. Seit nunmehr 20 Jahren im Geschäft, hatte er mehrere Ghostwriter beauftragt, Bücher im Namen anderer zu verfassen, und dabei stets die richtige Wahl beim Aussuchen der Schreiber getroffen. Doch jemanden zu finden, der es schaffte, den Stil von Paula Hogitsch zu imitieren, stellte eine seiner bis dato größten Herausforderungen dar, im Zuge derer er sich sogar seinen früheren Partner Rainer Benson herbeiwünschte. Der Stil der Krimiautorin war seiner Meinung nach schwerer zu kopieren als der anderer in seinem Verlag publizierender Schriftsteller.
Читать дальше