Das Programm für die Wintersaison des kommenden Jahres stand fest. Sie hatten mit dem 14. und letzten Werk von Paula Hogitsch geworben, bevor überhaupt ein Konzept existierte. Peter Biber verstand etwas von geschicktem Marketing. Er besaß das Talent, bei seinen Lesern und dem Hogitsch-Fankreis im deutschsprachigen Raum Spannung aufzubauen, bis es das Werk in den Buchhandlungen zu kaufen gab. Auch eine Lesereise war wieder geplant. Den Startschuss würden sie einmal mehr im Thalia auf der Mariahilfer Straße im 6. Wiener Gemeindebezirk abfeuern, wie bei jedem anderen der 13 Werke zuvor. Eine mittlerweile lieb gewonnene Tradition, die er ein letztes Mal so beibehielt.
Mit dem Hinweis „Es eilt!“ befahl Biber seiner Sekretärin Lucia Winter, Termine mit allen Ghostwritern zu vereinbaren, die seiner Meinung nach für „Zwischen den Zeilen“ infrage kamen. Die Schreiber wurden zu einem kurzen Gespräch geladen, in welchem die Verlagskommission deren spontane Einfälle zur Vorgabe testete. Nach einem Kurzbriefing waren die Schriftsteller angehalten, sich in den eigenen vier Wänden ein Konzept zu überlegen, wofür sie sieben Tage Zeit bekamen. Alle Exposés wurden dann zuerst von drei Lektoren gelesen und in einer Sitzung mit einem Kernteam besprochen. Die Entscheidung für einen Ghostwriter fiel direkt im Anschluss.
Lucia hatte es geschafft, das Briefing in den letzten Tagen völlig ohne seine Hilfe zu verfassen und sämtliche Schriftsteller vorzuladen, mit welchen er im Begriff war, sich auszutauschen. Nach mittlerweile eineinhalb Jahren an seiner Seite entwickelte sie sich langsam zu der Art von Assistentin, die Peter behagte. Er würde sich bei ihr demnächst mit einer Einladung zu einem Mittagessen für ihren unermüdlichen Einsatz bedanken.
„Ich grüße Sie. Mein Name ist …“ Noch bevor er ihn nennen konnte, war Peter Biber mit seinen Gedanken woanders. Den aktuellen Bewerber kannte der Verlagsleiter. Jedes seiner Werke aus dem Genre Regionalkrimi, erschienen in einem Konkurrenzverlag, war ein Erfolg gewesen.
Er hatte insgesamt vier Autoren begutachtet, die ihre Konzepte abgegeben hatten. Garantiert gute Qualität lieferte zwar jeder von ihnen, doch keiner schien die Werke von Paula Hogitsch ausreichend zu kennen, um ihren Stil perfekt zu kopieren – eine Grundvoraussetzung, um in ihrem Namen zu publizieren.
„Und, ist was dabei gewesen?“ Christopher Rose war einer der Lektoren, die sich um die Betreuung der Verlagsautoren, insbesondere von Paula Hogitsch, kümmerten.
„Bin nicht überzeugt“, murmelte Peter, während er einmal mehr die Lebensläufe der Ghostwriter begutachtete und die Verschwiegenheitsvereinbarungen auf einen Stapel legte, die jeder einzelne zu unterzeichnen hatte. „Wer kein einziges von Paulas Werken kennt, wird es in den nächsten Monaten nicht schaffen, diese Wissenslücke schnellstmöglich zu schließen. Dafür fehlt uns die Zeit.“
Peter legte die Latte Christophers Meinung nach – wie immer – hoch, doch jetzt die falsche Entscheidung zu treffen, könnte fatale Folgen für den Verlag haben. Im schlimmsten aller Fälle müssten sie die Ankündigung des Werks für den Herbst nächsten Jahres wieder zurückziehen, doch das wäre das erste Mal in der gesamten Verlagsgeschichte und eine höchst blamable Angelegenheit. Ihm war bewusst, dass so manch prominenter Schriftsteller, der in ihrem Verlag publizierte, eigene Haus- und Hofghostwriter anheuerte. Das Publikum kaufte es ihnen immer wieder ab, dass die Werke allesamt aus der Feder ihres Lieblingsautors stammten. Zumindest waren noch nie gegenteilige Meinungen oder Beschwerden durchgedrungen. Autor und Ghostwriter mussten zusammenpassen, und dieses Matching gleich einer Begegnung auf einer Dating-Plattform zu kreieren, stellte nicht die leichteste aller Aufgaben dar.
Während Peter immer und immer wieder dieselben Exposés durchsah, als erhoffte er sich eine erst spät auftauchende Erleuchtung, holte ihn das Klingeln des Telefons aus seinen Überlegungen.
„Jetzt nicht!“, fauchte er das Gerät an, als könnte er es mit seiner gereizten Aussage zum Verstummen bringen. Nach dem vierten Läuten nahm er dennoch ab. Seine Assistentin war am Apparat.
„Lucia, Sie wissen doch, dass ich mich hier mit Christopher verschanzt habe.“
„Tut mir leid, ja. Aber Herr Dorian Finz ist am Apparat. Einer der Herren Ghostwriter. Darf ich ihn durchstellen?“
Peter verdrehte die Augen, verdeckte mit der Handfläche den unteren Teil des Telefonhörers und sagte zu seinem Kollegen: „Was genau an ‚Rufen Sie uns nicht an, wir rufen Sie an‘ verstehen die Leute eigentlich nicht?“
Christopher schmunzelte. Der Verlagsleiter hatte den so überstrapazierten Satz, den kein Mensch je hören wollte, des Öfteren ausgesprochen, wenn er mit Leuten in Verbindung war, die etwas von ihm benötigten.
„Ja“, grunzte währenddessen Peter unfreundlich in den Hörer und legte einmal mehr die Exposés auf einen Stoß zusammen, um sie gleich im Anschluss wieder vor sich auszubreiten.
„Finz mein Name, grüß Sie Gott! Ich habe Ihnen vor ein paar Tagen mein Exposé für den Ghostwriting-Auftrag geschickt und …“
Peter fiel ihm ins Wort. „Ja, vielen Dank. Wir haben es erhalten und schauen uns gerade alles an.“
Er hielt das Schriftstück des Ghostwriters in die Höhe, um Christopher zu signalisieren, wer am Apparat war. Dabei verzog er sein Gesicht und schüttelte seinen Kopf leicht. Eindeutig schien er von dessen schriftstellerischem Erguss wenig begeistert zu sein.
„Wir melden uns, ja?“ Der Verlagsleiter beendete das Gespräch, legte auf und atmete durch. Wieder glitt sein Blick über die Zeilen der Bewerber.
„Ich hab da eine Idee. Wie wäre es denn, wenn ich die Aufgabe übernehme?“, schlug Christopher seinem Chef vorsichtig vor.
„Was meinst du?“, entgegnete der.
„Na ja, ich kenne Paula und ihren Stil seit vielen Jahren und auch alles andere, was sie ausmacht. Ich könnte das hinkriegen.“
Peter schaute ihn mit einem Fragezeichen in den Augen an, als wäre er selbst nie auf diese Idee gekommen.
„Hm, das ist ein Argument. Vielleicht würdest du es schaffen.“
Christophers Meinung nach hätte er sich das Wort „vielleicht“ an dieser Stelle sparen können. Er war sich sicher, das Projekt zu stemmen, auch wenn es ihm alles abverlangen würde. Abgesehen davon hatte er einmal ein Buch über die Abgründe Wiens verfasst. Dabei handelte es sich zwar um ein Sachbuch, aber er beherrschte es zu schreiben. Diese Fähigkeit brauchte er nicht infrage zu stellen.
„Weißt du was? Ich denke darüber nach. Wenn wir wirklich niemand anderen auftreiben können, ist es wohl besser, du übernimmst den Job. Allerdings müssten wir dich dann für die gesamte Zeit vom restlichen Verlagsbetrieb freistellen. Ob mir das so gefällt …“
Zumindest zog Peter diese Option in Betracht und zeigte sich willig, sich den Vorschlag durch den Kopf gehen zu lassen. Als er sich erheben und wieder an seinen Schreibtisch zurückkehren wollte, preschte der Verlagsleiter mit einer weiteren Idee vor.
„Was ist eigentlich mit Tobias Gielding? Habt ihr den noch nicht kontaktiert?“
Peter Biber hatte den Autor ursprünglich auf seine Liste an möglichen Schreibern gesetzt, ihn bisher aber nicht ernsthaft für diesen Job in Betracht gezogen.
„Der hat doch auch noch nie den Vogel abgeschossen“, argumentierte Christopher, ihn selbst dieses Mal außen vor gelassen zu haben. Jetzt, als er vielleicht selber zu einer unverhofften Chance kam, seine Fähigkeiten als Ghostwriter auszupacken und der Welt zu präsentieren, kam Peter plötzlich jemand anderer in den Sinn. Ging es ihm nur mehr ums Prinzip oder darum, Christophers Funktion als Lektor nicht leichtfertig aufzugeben? Unmöglich konnte er beide Jobs erledigen.
„Na, da ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich Paula ihre Entscheidung noch einmal durch den Kopf gehen lässt, wohl höher, als dass wir mit ihm eine gute Wahl treffen.“ Christopher redete in sich hinein und erwartete keine weitere Aussage seines Chefs dazu, doch der Verlagsleiter fühlte sich bemüßigt, dessen Wortmeldung einmal mehr zu kommentieren.
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