Ich lachte leise. Natürlich machte sie nur eine Pause. Sie würde nicht aufgeben. „Ich kann jetzt unmöglich gehen. Sonst werde ich mich immer fragen, ob du die Pirouetten noch gemeistert hast. Nein, wir sitzen jetzt beide hier fest.” Langsam ging ich auf sie zu.
Sie verzog das Gesicht. „Tut mir leid, dass ich Sie mit ins Verderben gerissen habe.”
Ihre Wortwahl amüsierte mich. „Es scheint, als teilten wir dasselbe Schicksal. Gefangen in der Pirouetten-Hölle. Ich finde, du solltest mich duzen.” Ich reichte ihr meine Hand. „Cristan.”
„Kati.” Sie legte ihre kleine Hand mit den langen, zarten Fingern in meine, fest und viel stärker, als es den Anschein hatte. Ich sah auf sie herunter und zog einen Mundwinkel hoch. „Guter Händedruck.”
„Interessanter Name”, sagte sie.
„Dänisch.” Das behauptete ich immer, wenn jemand mich darauf ansprach, dabei war ich mir gar nicht sicher, ob das stimmte. Vielleicht hätte ich meinen Namen einfach wechseln sollen, irgendwann im Laufe der Jahre hätte ich auf die modernere Form umsteigen können, aber er gefiel mir. Er gehörte von Anfang an zu mir, war eines der wenigen Dinge, die ich wirklich und wahrhaftig mein Eigen nennen konnte.
Kati lehnte noch eine Weile an der Stange. Dann ging sie etwas trinken und stellte sich wieder in die Mitte des Raumes. Aber schon fünf Minuten später ließ sie sich auf den Boden sinken.
„Ich versteh das einfach nicht. Ich habe das Gefühl, es wird immer schlimmer.”
Ich ging zu ihr und hielt ihr meine Hand hin, um ihr aufzuhelfen. „Manchmal ist das auch so. Dann muss man es einfach ruhen lassen.” Ich musste es vorschlagen, damit es nicht zu auffällig war, aber ich wollte natürlich nicht, dass sie den Vorschlag annahm. Und sie wäre nicht Kati gewesen, wenn sie das auch nur in Erwägung gezogen hätte.
„Auf keinen Fall. Ich finde noch heraus, woran es liegt. Heute. Aber wenn du gehen willst …”
Aber nein, wo es doch gerade anfängt, Spaß zu machen. Ich schüttelte den Kopf. „Aber ich hätte einen Vorschlag, wenn du ihn hören willst.”
Sie nickte. „Natürlich. Ich bin so verzweifelt, dass ich fast alles ausprobieren würde.”
„Wenn ich beim Klavier spielen an einer Stelle hänge, hilft es mir manchmal, etwas zu verändern. Irgendetwas. Manchmal reicht es, wenn ich den Stuhl anders hinstelle oder meine Jacke ausziehe. Ich schätze, damit überlistet man das Gehirn.”
Ihre grauen Augen fixierten mein Gesicht. Wahrscheinlich versuchte sie, herauszufinden, ob ich nur scherzte. „Wirklich?”, fragte sie schließlich.
Ich nickte. Ich hatte mir das nicht einmal ausgedacht. Ich wusste nur nicht, ob es auch bei anderen Menschen funktionierte. Bei Kati allerdings würde es funktionieren. Dank der Schuhe.
„Aber was soll ich ändern? Ich glaube kaum, dass es etwas bringt, das Trikot zu wechseln, ich habe zwar noch andere, aber sie sehen alle genau gleich aus. Schultrikots eben.”
Typisch Kati. Wahrscheinlich war sie die einzige hier, die nur die vorgeschriebenen Schultrikots besaß und nicht zum Vergnügen gelegentlich auch noch ein paar hübschere kaufte. Ich betrachtete sie von oben bis unten. Ja, viele Möglichkeiten gab es zum Glück nicht. „Wie wäre es mit den Schuhen?”
„Geht leider nicht. Ich habe nur noch dieses eine Paar.” Sie lächelte schief. „Normalerweise habe ich zwei, aber das eine ist schon vor ein paar Tagen kaputt gegangen.”
„Hast du denn die roten Schuhe nicht mehr?” Ich fühlte mich wie ein lauerndes Raubtier.
Sofort verspannte sie sich. „Doch. Sie hängen an der Wand in meinem Zimmer.”
„Dann hol sie doch. Du wohnst doch im Internat.”
„Nein, das kommt nicht in Frage. Ich trage sie nicht.” Allein der Gedanke schien sie zu erschrecken.
Als ob ich das nicht wüsste. „Wirklich? Du warst doch so begeistert davon.”
Sie schüttelte den Kopf. „Rosa Schuhe sind vorgeschrieben.”
„Das gilt doch sicher nur für den Unterricht. Jetzt sieht es ja keiner.”
Sie starrte mich unbewegt an. Trotzdem konnte ich an ihren Augen sehen, wie es in ihr arbeitete. Sie wollte es. „Ich will lieber nichts riskieren. Auf keinen Fall so kurz vor der Prüfung.”
Ihr Blick sank zu ihren Füßen. Ich wusste genau, woran sie dachte. An das Gefühl der roten Schuhe an ihren Füßen, die sich so ganz anders anfühlten, als die rosanen und dass sie es gerne noch mal spüren würde. Es war unglaublich, dass sie das ganze Jahr lang nicht nachgegeben hatte. Was für eine Willenskraft.
Ich sah ein, dass über Vernunft nichts zu gewinnen war. Ihr Wunsch war noch zu tief in ihr verborgen. Ich musste einen anderen Weg gehen, wenn ich ihn herauskitzeln wollte. „Ja, das verstehe ich. Sicherlich wird es nichts ausmachen, dass du die drei Pirouetten am Stück nicht schaffst. Andere haben damit ja auch Probleme. Und da du sowieso nicht sicher bist, ob du wirklich Tänzerin werden möchtest ...” Ich drehte mich um und ging zum Klavier, um meine Notenmappe zu holen.
„Warte.”
Ich blieb stehen und unterdrückte ein Lächeln. Dann drehe ich mich zu ihr um.
„Du hast Recht. Ich kann nicht riskieren, bei der Prüfung schlecht abzuschneiden.” Sie senkte den Kopf und zupfte an ihrem Trikot herum. „Wenn ich die Schuhe anziehe, bleibst du dann noch hier und achtest ein wenig darauf, dass niemand kommt?”
„Natürlich.”
„Danke.” Sie sah erleichtert aus. „Aber zuerst muss ich die hier loswerden.”
Sie setzte sich auf den Boden, die langen Beine überkreuzt, und löste langsam die Bänder ihrer Schuhe. Sie schälte sich den linken Schuh vom Fuß. Den großen, frischen Blutfleck, der durch ihre Strumpfhose bis auf das Satin der Schuhe durchgedrungen war, kommentierte sie gar nicht. Unfassbar, dass sie jeden Tag damit trainierte.
Dann stand sie auf und lief aus dem Saal, um die roten Schuhe zu holen.
Wenige Minuten später kam sie mit einem zusammengerollten Handtuch in den Händen zurück. Bevor sie die Tür zum Ballettsaal schloss, sah sie sich noch einmal um, ob ihr jemand folgte.
„Zum Glück hab ich damals die Bänder an die Schuhe genäht.”
Sie schlug das Handtuch auseinander und roter Satin strahlte mir entgegen. Mit einem Lächeln im Gesicht streichelte Kati über den glatten, makellosen Stoff. Ein Gefühl der Erregung durchfuhr mich. Sie zog die Schuhe an, schnürte konzentriert die Bänder und stand dann auf, sah nach unten, stellte einen Fuß auf die Spitze und dehnte das Bein.
„Und, wie fühlt es sich an?” Erstaunt stellte ich fest, dass mein Herz schneller klopfte. Ich lauerte darauf, dass ihr Wunsch endlich erwachte. Aber nichts tat sich. Ich konnte ihn immer noch nicht spüren.
Durch die blasse Haut an Katis Hals sah ich eine dunkelblaue Vene pulsieren.
„So schlimm?”, fragte ich.
„Nein … nur … es fühlt sich irgendwie verboten an.”
Vorsichtig, so als könnten schon die Geräusche der Schuhe auf dem Boden ihre Untat verraten, bewegte sie sich zur Stange. Sie ging mehrmals zu einem perfekten Plié in die Knie und streckte dann die Beine mit dem Fuß am Boden nach vorne aus, um ein paar Battements zu machen. Sie hoffte wohl, sich dadurch an die Schuhe zu gewöhnen. Nach ziemlich kurzer Zeit stellte sie sich wieder in die Mitte. „Unglaublich, dass völlig neue, völlig unbearbeitete Schuhe sich so anfühlen können.” Sie flüsterte immer noch, aber ihr Puls hatte sich beruhigt.
Als ich die ersten Töne anspielte, begann sie mit den Pirouetten. Zuerst sah ich keinen deutlichen Unterschied. Sie verlor immer noch bei der zweiten Drehung die Balance und schummelte sich irgendwie durch die dritte. Nur dass ihr Gesicht jetzt entspannt und konzentriert wirkte, nicht mehr so verbissen.
„Wie läuft es?”, fragte ich schließlich, als ich immer noch keine Veränderung erkennen konnte.
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