Aber natürlich wollte ich das auch gar nicht.
Ich mochte meine Füße. Die viele Hornhaut und die Schwielen, die roten Flecken nach dem Training und das Blut in den Schuhen. Wenn es nicht blutete, hatte ich nicht lang genug trainiert. Auf die Schmerzen hätte ich allerdings verzichten können. Meist war es nur ein Brennen an der offenen Stelle oder ein Ziehen im Ballen, aber manchmal wurde das Ziehen zu einem heißen Pochen, das bei jedem Schritt in die Zehen stach und schließlich bis in die Unterschenkel ausstrahlte. In solchen Momenten hätte ich am liebsten eine Axt genommen und mir die Füße abgehackt.
Ich schlüpfte in meine Spitzenschuhe, schlang die Satinbänder um mein Fußgelenk, verknotete sie, so dass der Knoten in der kleinen Kuhle hinter dem Knöchel lag, und steckte die Enden von oben darunter. Ich spürte schon, dass sie nicht ganz richtig saßen, aber die Hoffnung, ein Modell zu finden, das mir gut passte, hatte ich inzwischen aufgegeben. Nach ein paar lockeren Dehnübungen auf dem Boden stand ich auf.
Die endlosen Meter Stange vor den Spiegeln, die nahezu die ganze Wand einnahmen, waren noch verwaist. Die anderen Tänzer der Ballettkompanie, an der ich arbeitete, würden erst nach und nach zum morgendlichen Training eintrudeln, aber ich war gern allein, wenn ich mit dem Aufwärmen anfing.
Ich machte ein paar Aufwärmübungen und legte dann mein rechtes Bein auf die Stange, um es in verschiedenen Positionen zu dehnen, bevor ich es nach rechts ausstreckte und mit dem Fuß auf der Stange in den Spagat rutschte. Ich ließ meinen Fuß so lange auf dem Holz nach rechts gleiten, bis der Schmerz einsetzte. Im Gegensatz zu dem Pochen in meinen Füßen war es ein guter Schmerz. Einer, mit dem ich arbeiten konnte.
Ich versuchte, noch ein wenig tiefer zu gleiten. Auch wenn es nach außen hin perfekt aussah, vielleicht sogar viel zu weit gedehnt für jemanden, für den Spagat nur eine gerade Linie der Beine bedeutete, an der Beweglichkeit konnte man nie genug arbeiten. Zuerst fühlte es sich so an, als ginge es kein Stück weiter, als würde die Sehne reißen, als würde das Ziehen unerträglich. Ich schloss die Augen und atmete tief durch, direkt in die Sehne hinein. Es geht immer weiter. Es geht immer etwas mehr. Es ist der Kopf, der dich aufhält. Irgendwann merkte ich, wie meine Muskeln sich entspannten und der Druck auf die Sehne nachließ. Ich schob weiter, nur ein kleines Stück. Winzig. Aber trotzdem unglaublich wichtig. Ein kleiner Sieg in meinem stetigen Kampf gegen meinen Körper. Schließlich konnte ich nicht zulassen, dass er mich davon abhielt, perfekt zu tanzen.
Ich arbeitete mich durch meine üblichen Dehn- und Aufwärmübungen, während der Saal sich langsam füllte. Auch mein restlicher Körper war heute widerspenstig, dennoch war ich einige Minuten vor Trainingsbeginn warm.
Als ich mich von der Stange abwandte, sah ich Yuki in der Nähe mit ein paar der anderen Tänzerinnen reden. Die meisten Gruppentänzer kannte ich, konnte sie zumindest dem Sehen nach einordnen, aber ein paar Gesichter waren mir neu. Wahrscheinlich gehörten sie zu Davids frischer Ausbeute. Das jährliche Vortanzen war gerade vorbei und die Kompanie hatte ein paar neue Mitglieder bekommen. Ich machte einen Schritt in Yukis Richtung, überlegte, ob ich zu ihr hinüber gehen sollte. Dann entschied ich mich dagegen. Es war nicht so, dass ich mich für etwas Besseres hielt, auch wenn das einige der Gruppentänzer sicher glaubten, aber es war hier nicht üblich, sich zu mischen. Es war so eine Art ungeschriebenes Gesetz, dass man sich nach dem Aufwärmen für das Training zu der Gruppe gesellte, zu der man gehörte, und es widerstrebte mir, mich nicht daran zu halten. Außerdem verstummten die Mädchen aus dem Corps und beäugten mich kritisch, wenn ich mich doch mal zu ihnen gesellte. Also wandte ich mich mit einem letzten Blick auf Yuki ab, um zu den Ersten Solisten hinüber zu gehen. Nicht, dass ich mich bei denen so viel wohler gefühlt hätte, aber immerhin gehörte ich nach außen hin dazu.
Sofort fiel mir die neue Tänzerin auf, die zwischen Laura und Alexej stand. Mein Magen zog sich zusammen, als ich ihre perfekt auswärts gedrehten Beine und ihren hohen Spann sah. Erst auf den zweiten Blick bemerkte ich ihre blonden Haare und das hübsche Gesicht. Ich presste die Lippen aufeinander.
„Und wer ist der?”, fragte die Neue gerade. An ihrem Akzent erkannte ich, dass sie aus Russland kam. Na toll. Sicher war ihre Technik genauso perfekt wie ihr Körper. „Der ist doch bestimmt kein Tänzer, oder?” Sie deutete auf einen Mann, der sich gerade durch eine Gruppe männlicher Solisten schob.
„Cristan? Nein.” Laura lachte, als wäre der Gedanke völlig abwegig. „Schau ihn dir doch an, Irina.”
Die Neue, Irina, kicherte. „Stimmt. Seine Arme sehen nicht so aus, als könnte er damit eine Tänzerin einen Abend lang herumheben.”
Ich kräuselte die Nase.
„Er ist nur der Pianist”, erklärte Laura.
Ärger stieg in mir auf und ich wusste nicht einmal genau warum. Es stimmte ja schließlich. Cristan war kein Tänzer und er fiel auf, wenn er zwischen ihnen stand. Trotzdem gefiel es mir nicht, wie sie über ihn redeten. Seine Haltung war tadellos; gerade und aufrecht, aber ohne die leicht arrogant wirkende Kopfhaltung, die den meisten Tänzern eigen war und oft zu Missverständnissen mit Außenstehenden führte. Aber da war noch etwas anderes an ihm, etwas, das die anderen neben ihm verblassen ließ.
„Ist er nicht mit dir zusammen hierher gekommen, Kati?”
Ich nickte. Es war ein ziemlicher Zufall gewesen, dass Cristan im selben Jahr, in dem ich ein Engagement an der Kompanie bekommen hatte, als Pianist eingestellt worden war.
„Er sieht absolut durchschnittlich aus. Auf keinen Fall kann er sich mit Mathias messen.” Laura seufzte und starrte meinen Pas de Deux Partner an, der sich gerade an einer anderen Stange aufwärmte. Ich verdrehte die Augen.
„Ich finde Cristan schon ganz sexy”, sagte Alexej.
„Natürlich, Süßer”, sagte Laura. „Du findest ja jeden sexy, der einen einigermaßen straffen Hintern hat.”
Meine Wangen wurden heiß. Du meine Güte. Sie reden über ihn, als wäre er ein Stück Fleisch.
„Na und du? Immerhin hast du seinen Hintern auch bemerkt”, gab Alexej zurück.
Laura lachte. „Erwischt. Gut, ich gebe es zu. Aber das nutzt sowieso nichts, er ist nämlich nicht zu haben.”
Alexej schaute interessiert. „Ach tatsächlich? Sprichst du aus leidvoller Erfahrung? Wie interessant. Ich hätte ihn gar nicht für einen von uns gehalten.” Er ließ seinen Blick über Cristan wandern, als würde er ihn plötzlich mit ganz anderen Augen sehen.
„Vergiss es. Ich weiß nicht, was er ist, aber er hat bisher alle abblitzen lassen, die es versucht haben. Jungs wie Mädels.” Laura klopfte Alexej tröstend auf die Schulter.
„Vielleicht hat er schon jemanden. Oder er ist unglücklich verliebt”, mutmaßte die Neue.
Mir reichte es. „Oder er breitet sein Privatleben nicht vor solchen Klatschmäulern wie euch aus”, fauchte ich.
Alexej sah mich verwundert an. „Hey, was ist denn mit dir los?”
„Genau”, meinte Laura. „Kein Grund uns so anzufahren.”
Ja, das hätte ich mir wohl besser verkneifen sollen. Es war sowieso schwer genug für mich, mich unter ihnen zu behaupten. Die Neue hingegen schienen sie sofort akzeptiert zu haben. Vielleicht, weil sie als Erste Solistin eingekauft worden war und sich nicht, so wie ich, in sehr kurzer Zeit innerhalb der Kompanie hochgearbeitet hatte. Mit einundzwanzig war ich eine der jüngsten Ersten Solistinnen die die Kompanie je gehabt hatte.
Die Neue musterte mich. „Oder vielleicht weißt du sehr genau, warum er kein Interesse hat.” Obwohl mir klar war, dass sie es nicht böse meinte, ging es mir gegen den Strich. Gewaltig. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, das meiner sozialen Stellung in der Kompanie wahrscheinlich endgültig den Todesstoß versetzt hätte, aber in dem Moment hörte ich jemanden in die Hände klatschen. David. Ich sah auf die Uhr. Halb zehn, auf die Minute. David nahm es mit dem Trainingsplan immer sehr genau. Er ließ keine Entschuldigungen gelten, auch nicht im Training. Ich mochte es, wenn er das morgendliche Training leitete.
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