Sie probierte viele Modelle durch, von denen die meisten nicht einmal im Sitzen ihre Zustimmung fanden. Schließlich behielt sie doch ein Paar an, stellte sich mittig vor den Spiegel, hob die Arme und sprang blitzschnell auf die Spitze. Die Arme bildeten einen anmutigen Bogen, wobei sich die Fingerspitzen über dem Kopf nicht berührten, und die Beine waren perfekt gestreckt. Als Kati in den Spiegel sah, kontrollierte sie sofort ihre Haltung. Erst ihr zweiter Blick galt den Schuhen. Ich verzog unwillkürlich den Mund zu einem Lächeln. Ja, es steckte in ihr. Tief verborgen, aber es war da.
„Und? Wie sind die?”, fragte die Verkäuferin.
Obwohl die Schuhe wie alle neuen Spitzenschuhe keine Satinbänder hatten, die sie am Knöchel fixierten, saßen sie fest am Fuß, bis auf die Sohle, die noch hart und unnachgiebig war und leicht abstand, anstatt der Rundung des Spanns zu folgen.
Schon bevor Kati den Kopf schüttelte, sah ich es an ihrer kraus gezogenen Nase.
„Ich fühle mich darin einfach nicht wohl.” Sie ließ sich erst auf den ganzen Fuß und dann auf den Stuhl sinken. „Tut mir leid.” Sie seufzte. „Langsam glaube ich, dass es den richtigen Schuh für mich einfach nicht gibt. Egal, wie gut er im Laden passt, später drückt er doch wieder.“
Mrs. Simmons hob nur stoisch die Schultern. „Wir finden schon einen brauchbaren Schuh für dich, Kati. Und wenn wir bis heute Nacht hier sitzen.”
Ich konnte nur hoffen, dass es nicht so lange dauern würde, denn die Taubheit in meinen Fingerspitzen kroch bereits meine Arme hinauf und näherte sich meiner Brust. Lange konnte ich nicht mehr warten, aber zuerst musste ich mit Kati alleine sein.
Kati lächelte schief. „Ich fürchte, das würde auch nichts bringen.”
In diesem Moment schallten aus dem Verkaufsraum ein paar elektronische Töne zu uns herüber. Erleichtert erkannte ich das Thema von „Don Quichotte”. Die Ladenbesitzerin bekam diesen Anruf jede Woche, nahm ihn immer an, und er zog sich jedes Mal unendlich lange hin. Es war nicht schwer gewesen, Kati dazu zu bringen, genau zu diesem Zeitpunkt hierherzukommen.
„Oh, das ist sicher mein Vater. Ich bin gleich wieder da.” Als sie an mir vorbeikam, hielt sie kurz inne. Sie verengte die Augen, drehte den Kopf ein wenig hin und her, lauschte und streckte schließlich eine Hand aus. Sie spürte mich. Das hätte ich ihr nicht zugetraut. Natürlich griff sie ins Leere. Im letzten Moment war ich vollständig verblasst, auch wenn ich es wahrscheinlich bereuen würde.
Kopfschüttelnd verschwand die angebliche Mrs. Simmons aus dem Zimmer und ließ mich mit Kati allein. Endlich. Ich wurde wieder körperlich. Die Taubheit wich langsam aus meiner Brust und meinen Gliedern, aber nicht ganz. Sie war meinem Herzen diesmal viel zu nahe gekommen.
„Es ist wohl nicht einfach, die richtigen Schuhe zu finden?”, sagte ich und trat einen Schritt in den kleinen Raum hinein.
Kati fuhr hoch, einen Schuh in der Hand. Ganz kurz wurden ihre Augen größer. Grauer. Dann atmete sie erleichtert auf und nickte.
„Entschuldigung. Ich wollte dich nicht erschrecken.” Ich ließ ein freundliches Lächeln um meine Lippen spielen.
„Schon gut.” Sie deutete auf die vielen Schuhe, die um sie verstreut lagen. „Es ist sehr wichtig, die richtigen Schuhe zu haben. Die falschen Schuhe können großen Schaden anrichten.”
Ich lenkte meinen Blick auf ihre nackten Füße. „Das sehe ich.”
Ein rosa Schimmer legte sich über ihre helle Haut, und sie schob die Füße unter den Stuhl.
Ich verkniff mir ein zynisches Grinsen. Ich kenne deine Füße wahrscheinlich besser als du selbst. Jede Schwiele, jede Blase und auch die Stelle vorne am großen Zeh, die nach dem Training immer blutet, egal, was du unternimmst, um es zu verhindern.
„Kein schöner Anblick, ich weiß”, flüsterte sie.
„Kein Grund, sich zu schämen”, sagte ich. „Ich bin sicher, jede Blase ist hart erarbeitet.”
Das brachte sie zum Lächeln. Es war ein echtes Lächeln, aber es berührte ihre Seele nicht. Nur ihren Verstand. Immerhin zog sie ihre Füße langsam wieder unter dem Stuhl hervor. „Ich finde einfach keine Schuhe, die mir richtig passen. Vielleicht ist das ein Zeichen. Vielleicht soll ich nicht Tänzerin werden.”
„Willst du denn Tänzerin werden?”, fragte ich, obwohl ich die Antwort kannte.
„Ich weiß nicht. Ich …” Ihre Stimme erstarb und sie sah mich ein wenig ratlos an, als hätte die Frage ihr in letzter Zeit schlaflose Nächte bereitet. Im Gegensatz zu mir kannte sie die Antwort nicht. Sie ahnte noch nichts von dem Verlangen, das tief in ihr schwelte. Ihr sehnlichster Wunsch und meine Waffe.
Sie öffnete den Mund, um zu antworten, aber dann richtete sie sich auf, fixierte mich und verengte die Augen. „Warum interessiert Sie das alles? Wollen Sie auch Spitzenschuhe kaufen?” Der Spott ließ ihre Augen schimmern wie flüssiges Blei. „Es gibt mittlerweile auch Herrengrößen.”
Gut. Ich hatte schon befürchtet, sie würde es mir doch zu einfach machen. Das wäre nach all der Vorbereitung eine ziemliche Enttäuschung gewesen. „Vielleicht ein andermal. Ich bin eigentlich auf der Suche nach einer bestimmten CD und habe mich ein wenig verlaufen.”
„Ja, das kommt vor. Man munkelt, dass der Laden eine Präzisionsfalle ist. Wer sich darin verirrt, muss Mrs. Simmons für alle Ewigkeit dienen.”
„Wirklich teuflisch.” Nicht, dass es so abwegig gewesen wäre.
„Ja. So ist sie. Ich frage mich, wo sie bleibt.” Kati betrachtete die Spitzenschuhe in ihrer Hand. Hautfarbener, glänzender Satin, straff über eine Konstruktion gespannt, die den Fuß stützen sollte, wenn er auf den empfindlichen Zehenspitzen stand. Die Schuhe wirkten starr und unnachgiebig. Kaum vorstellbar, dass es möglich war, darin zu tanzen. „Ohne sie kann ich nicht weiter machen. Und ich muss doch zum Training.”
„Vielleicht kann ich ja helfen.”
Sie verzog den Mund. „Kaum. Das ist eine Wissenschaft für sich.”
„Manchmal ist eine neue, unverdorbene Perspektive hilfreich.” Ich ging zu einem Regal und streckte die Hand aus.
„Nicht!”
Ich hielt inne und drehte mich zu Kati um. „Warum nicht?”
Sie sah schockiert aus. „Das ist Mrs. Simmons’ Heiligtum. Niemand darf sich hier selbst Schuhe nehmen.”
„Das Risiko nehme ich auf mich. Du kannst mir die ganze Schuld zuschieben, falls sie wütend wird.” Ich zwinkerte ihr zu. Ohne ihren zweifelnden Blick weiter zu beachten, zog ich willkürlich ein Paar Schuhe aus dem Regal und hielt es ihr hin.
Sie schüttelte den Kopf. „Ich warte lieber.”
Aus dem Nebenraum klang Mrs. Simmons’ Stimme zu uns herüber. „Ja, Vater, jede Woche, das weiß ich, aber ich habe eine Kundin …” Ein Geräusch von auf Holz trommelnden Fingern und dann ein Seufzen. „Doch Vater, natürlich habe ich Zeit für dich. Ja, auch wenn es länger dauert.”
Kati stöhnte und sah auf die Uhr.
Ich hob eine Augenbraue. „Willst du wirklich warten, bis sie wiederkommt? Das hört sich nach einem längeren Gespräch an.” Ich hielt ihr noch einmal die Schuhe hin.
Etwas ungnädig betrachtete sie den Aufkleber. „Das ist nicht einmal die richtige Größe.”
Natürlich nicht. Ich wollte ja nicht, dass sie Verdacht schöpfte. „So ein Pech. Moment.” Ich nahm ein Paar vom Boden und tat so, als würde ich die Größenangabe auf dem Aufkleber lesen. Dann suchte ich erneut ein Paar Spitzenschuhe aus und hielt es ihr hin.
„Sie geben wohl nicht auf, was?”
„Ich versuche nur, einer Dame in Not zu helfen.”
Sie verdrehte die Augen. Aber als ich mich nicht rührte, nahm sie die Schuhe und sah sie sich an. Dann warf sie mir einen amüsierten Blick zu. „Gar nicht schlecht. Das ist das Modell, das ich die letzten Monate benutzt habe. Aber jetzt wird es mir zu schnell weich, und Blasen bekomme ich davon auch.” Sie drückte mir die Schuhe wieder in die Hand.
Читать дальше