Alana Falk
Für meine Mutter, die mir Flügel schenkte.
Machandel Verlag
Charlotte Erpenbeck
2013
ISBN 978-3-939727-55-2
Cover-Künstlerin: Jenny Jinya
Sonstige Illustrationen: Francesco Abrignani/www.shutterstock.com
Lange Zeit glaubte ich, dass mit mir etwas nicht stimmte. Wie konnte man nicht wissen, ob man wirklich Tänzerin werden wollte, und dennoch die ganzen Opfer auf sich nehmen, die mit der Ballettausbildung verbunden waren? Die blutigen Füße, die schmerzenden Glieder, die wenige Freizeit.
Die anderen Mädchen, die mit mir die Akademie besuchten, wussten genau, was sie wollten. Sie liebten das Tanzen, während es für mich immer nur ein notwendiges Übel war. Aber das war, bevor ich wusste, was Tanzen wirklich ist.
Als ich es zum ersten Mal spürte, war ich siebzehn. Ich trainierte bereits seit neun Jahren regelmäßig, anfangs zweimal die Woche, dann drei- und später sechsmal. Schließlich wurde ich sogar an der Akademie für Ballett und Tanz aufgenommen, obwohl mir der Ausdruck fehlte. Man gab mir eine Chance, weil meine Technik überdurchschnittlich war und mein Körperbau stimmte.
Damals ging es mir nicht um den großen Auftritt im Ballett. ;Es ging mir um die Arbeit an der Stange. Ich mochte die strenge Gleichförmigkeit, mit der wir jedes Mal aufs Neue alle Übungen der Reihe nach abarbeiteten. Ich mochte das Gefühl, meinen Körper vollkommen meinem Willen zu unterwerfen, ihn dazu zu bringen, sich über das normale Maß hinaus zu dehnen, zu formen und zu kräftigen.
Doch so sehr ich die Arbeit an der Stange genoss, so sehr hasste ich die Arbeit in der Mitte des Raumes. Ich fühlte mich ausgeliefert und haltlos, trotz der strengen Schrittvorgaben des klassischen Balletts. Die freie Improvisation in den Modern-Dance-Stunden war für mich die Hölle. Trotzdem konnte ich mich nicht entschließen, dem Ganzen ein Ende zu machen. Ich mogelte mich irgendwie durch die Prüfungen, indem ich vorgab, etwas zu fühlen, aber mehr als einmal hatte ich wahrscheinlich einfach nur großes Glück.
Es wurde besser, als ich meinen Körper so gut beherrschte, dass ich die Übungen in der Mitte technisch perfekt ausführen konnte. Aber ich sehnte mich immer an die Stange zurück.
Bis zu jenem Moment, der alles veränderte. Ich stand allein in der Mitte des Saales, wieder einmal, genervt von den Schritten, die ich ausführen sollte und in denen ich keinen großen Sinn sah. Die anderen waren längst nach Hause gegangen, aber ich wusste, dass ich auch das Tanzen endlich meistern musste, wenn ich ein weiteres Jahr an der Akademie überstehen wollte.
Ich ließ nicht locker und arbeitete bis zur Erschöpfung daran, meinen Körper dazu zu bewegen, endlich zu tanzen. Aber mein Herz war nicht dabei. Das war es nie.
Ich wusste lange nicht, was an jenem Tag anders gewesen war. Es waren der gleiche Saal und die gleichen Bewegungen. Sogar die gleiche Musik. Sie kam von einem vorsintflutlichen Plattenspieler, der schrecklich rauschte, aber Madame weigerte sich, einen CD-Player anzuschaffen. Sie sagte immer, es käme nicht auf den perfekten Klang an, sondern auf die Seele der Musik.
Ein Stück aus dem Feuervogel, das ich nicht einmal besonders mochte, tönte aus den Lautsprechern, während ich mich mechanisch im Takt bewegte und die Bewegungen abspulte. Der Schweiß rann mir über die Stirn, die Füße taten mir weh, und ich hatte innerlich mit dem Training schon abgeschlossen.
Dann, von einer Sekunde auf die andere, rutschte alles an seinen Platz. ;Alles, was ich je gelernt, trainiert und verflucht hatte, ergab plötzlich einen Sinn. Aus den einzelnen Übungen, die ich aneinanderreihte, wurde ein große, allumfassende Bewegung; perfekt im Einklang mit der Musik. Ich tanzte wirklich und wahrhaftig, zum ersten Mal in meinem Leben.
Viele Menschen erleben diesen Moment nie, und das ist der Grund, warum sie irgendwann aufhören zu trainieren. Sie finden, dass es das Opfer nicht wert ist. Diejenigen aber, die einmal wirklich getanzt haben, würden ohne zu zögern alles dafür opfern.
Fast alles.
Es war dieser Moment, der in mir das unstillbare Verlangen weckte, Tänzerin zu werden. Nur aus dem einen Grund: dieses Gefühl wieder und wieder, so oft wie nur möglich zu spüren.
An jenem Tag trug ich die roten Schuhe.
Vor einer Weile hatte „Mrs. Simmons’ Ballettboutique” Kati mit Haut und Haar verschlungen. Der Laden lag in einem winzigen Hinterhof, überragt von Altbauten mit schmutzigweißen Simsen. Es sah aus, als würden die Häuser die Köpfe zusammenstecken und sich ächzend über die Gebrechen ihres jahrhundertealten Mauerwerks unterhalten.
Einen Moment lang fixierte ich die geschlossene Tür und erwog, sie einfach zu durchschreiten. Dazu hätte ich jedoch vollständig verblassen müssen, und das war ein zu großes Risiko; schon jetzt waren meine Fingerspitzen völlig gefühllos.
Also öffnete ich die Tür schließlich auf herkömmliche Art, um hindurchzugehen. Der Verkaufsraum war ohnehin verwaist. Mrs. Simmons, die in Wirklichkeit Frau Müller hieß und hoffte, ihrem Laden durch den englischen Namen mehr Flair zu verleihen, stand nicht am Tresen. Wahrscheinlich war sie bei Kati im Hinterzimmer.
Es war kein Zufall, dass ich mir gerade Kati ausgesucht hatte. Schon als ich sie zum ersten Mal gesehen hatte, hatte ich gewusst, dass nur sie infrage kam. Und ich wusste auch, wozu ich sie verdammte, indem ich sie wählte. Das war schließlich der Sinn des Ganzen. Ich würde die Verdorbenheit freilegen, die sie in sich trug, und sie würde bekommen, was sie verdiente. Genau wie alle anderen.
Eine dichte Reihe von Kleiderständern mit Balletttrikots, langen, bunten Röcken und Strickjacken warf sich mir in den Weg, als wollte sie mich daran hindern, in den Bereich des Ladens vorzudringen, zu dem einem normalerweise nur die Besitzerin Einlass gewähren konnte. Natürlich war ich nicht auf ihre Erlaubnis angewiesen. Ich schritt an Regalen mit CDs, Büchern, Beinwärmern und Strumpfhosen vorbei durch einen langen dunklen Gang bis zu einem kleinen Zimmer, das bis unter die Decke mit rosa glänzenden Spitzenschuhen vollgestopft war.
„Ich glaube, ich brauche schon wieder ein härteres Modell, Mrs. Simmons.” Die Stimme klang jung und verletzlich. Vielleicht hätte sie Mitleid in mir hervorgerufen oder ein schlechtes Gewissen, wenn ich mir nicht absolut sicher gewesen wäre, dass ich das Richtige tat.
Kati stand vor einem großen Spiegel mit abgenutztem Holzrahmen und betrachtete mit gerunzelter Stirn die rosa Spitzenschuhe an ihren Füßen.
„Ja, das dachte ich mir schon. Deine Füße entwickeln sich schnell. Jetzt schon so harte Schuhe und dabei bist du erst fünfzehn. Warte.“ Die Verkäuferin verschwand in einen weiteren Nebenraum des Ladens, der zwar winzig wirkte, sich aber labyrinthartig in das Erdgeschoss des Hauses hineinfraß.
Ich sah Kati dabei zu, wie sie die Schuhe auszog, kurz ihre nackten Füße betrachtete und sich vor dem Spiegel auf halbe Spitze stellte. Und dann, ohne mit der Wimper zu zucken, auf die ganze. Etwas, das ich schon länger nicht mehr gefühlt hatte, durchströmte mich. Vorfreude.
Mrs. Simmons kam bald mit einem Korb voll von rosa Schuhen zurück und kniete sich vor Kati auf den Boden.
„Hier, probier die. Die sind besonders geeignet für den russischen Stil.“
Kati nickte ernst. Sie nahm einen der Schuhe und schlüpfte hinein. Es sah perfekt aus, wie ihr Fuß in den Schuh glitt. Aber noch bevor der Schuh ganz an ihrem Fuß saß, schüttelte sie den Kopf. „Nein, das geht zu leicht. Da habe ich nachher bestimmt keinen Halt.“
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