Ich stehe an einer Abzweigung des Weges und blinzle in das helle Grau des Tages. Welchen Weg muss ich einschlagen? Ich vermute, ich sollte weiter dem Weg geradeaus folgen. Sicher bin ich mir allerdings nicht. Vorsichtshalber nehme ich die Karte aus meiner Jackentasche. Richtig, ich darf nicht rechts abbiegen, sondern ich muss weiter diesen Weg gehen, der später in den Eisenweg mündet. Ich stecke die Karte zurück in meine Jackentasche und schaue in den Himmel. An einigen Stellen reißt die graue Wolkendecke auf und es zeigen sich blaue Flecken. Prima, denke ich. Dann werde ich wohl heute vom Regen verschont bleiben. Einen großen Schluck aus der Wasserflasche, dann kann es weiter gehen und nach kurzer Zeit sind meine Erinnerungen wieder da. Ich lasse sie zu und versuche erst gar nicht, sie zu vertreiben. Es wäre vermutlich sinnlos. Vielleicht gehört das fortwährende sich an die Vergangenheit erinnern und sich gedanklich damit zu beschäftigen dazu, sie zu bewältigen. Ändern kann ich ohnehin nichts mehr. Was geschehen ist, ist geschehen.
Nach Ronnis Beichte änderte sich mein Leben völlig – nein, nicht nur mein Leben änderte sich, auch meine Einstellung zum Leben und zur Partnerschaft mit meinem Ehemann änderte sich.
Vorher ging ich so gut wie nie allein aus. Vielleicht auf ein Glas Wein mit den Kolleginnen, mehr auch nicht. Ronni und ich verbrachten unsere Freizeit, wenn es sich irgendwie einrichten ließ, immer zu zweit.
Das änderte sich jetzt grundlegend. Ich ließ keine Gelegenheit aus, ja, ich suchte jede sich bietende Möglichkeit, allein meine Freizeit zu gestalten. Ich besuchte kreative Kurse der Volkshochschule, entweder allein oder mit der einen oder anderen Kollegin. Ich ging in Museen und in verschiedene Theater in Bonn.
Ich konnte den Zustand unserer Ehe nicht lange vor den Kolleginnen geheim halten. Sie merkten recht bald, dass ich der Zweisamkeit mit meinem Mann entfloh, als wäre sie etwas Unangenehmes.
Immer öfter kam es vor, dass mich eine Kollegin abends zu einem Drink in eine Bar oder zum Besuch einer Disco einlud. In den meisten Fällen nahm ich diese Einladung an und es waren immer schöne Abende, die mich meine Probleme vergessen ließen.
Auch mein Chef merkte die Veränderung und umschwärmte mich mit Komplimenten und manchmal mit einer Einladung zu Events von Kunden oder öffentlichen Veranstaltungen, wo er repräsentieren musste. Ronni blieb in der Zeit meistens zu Hause und hockte sich zerknirscht vor den Fernseher. Darauf wollte ich keine Rücksicht mehr nehmen. Es war immer ein schöner Abend mit Rolf, meinem Chef. Er stellte mich gerne als seine beste Kollegin vor, das mir selbstverständlich schmeichelte. Fast immer kam es im Laufe des Abends vor, wenn wir ein paar Gläser getrunken hatten, dass wir ein wenig flirteten. So, wie wir es früher öfter getan hatten, unverfänglich und harmlos. Wenn die Abende weiter fortschritten, erhielten unsere Flirts eine andere Dimension und wurden intensiver und eindeutiger. Es war für mich so eine Art Trotzreaktion gegenüber Ronni nach dem Motto: Was du kannst, kann ich schon lange.
An einem Samstagabend besuchte unsere gesamte Belegschaft eine Ü30-Party. Auch Rolf war dabei. Wir tanzten alle ausgelassen. Wegen des Frauenüberschusses besuchten wir häufig nur wir Frauen die Tanzfläche. Zu später Stunde kam es immer öfter vor, dass Rolf meine Nähe suchte und mich als seine Tanzpartnerin wählte. Ich hatte nichts dagegen. Welche Frau wird nicht gerne von einem Mann umworben und dann noch von ihrem Chef? Ich zählte nicht zu den Frauen, die sich das verwehrten.
Meinen Kolleginnen blieb das nicht verborgen und sie lästerten bereits hinter vorgehaltener Hand. Vor dem dritten langsamen Tanz steckte mir eine Kollegin leise, dass Rolf es sei, der sich beim DJ die langsamen Songs wünschte. Na und, dachte ich, soll er doch, wenn es ihm Spaß bereitet. Mir gefiel es ebenfalls, denn Rolf war ein guter Tänzer, der sich alle Mühe gab, mich auch während des Tanzes gut zu unterhalten.
Irgendwann war es dann soweit. Ich hatte es erwartet und sicherlich sogar auch zum Teil provoziert. Er drückte mich fester an sich und seine Hand strich von der Schulter hinunter bis zum Ende meiner Wirbelsäule. Ich ließ es geschehen. Ich sah ihn an und wusste im selben Augenblick, was folgen würde. Er beugte seinen Kopf und berührte mit seinen Lippen zuerst meine Stirn, dann meinen Nasenrücken und endlich meinen Mund. Auch das ließ ich geschehen. Ich wollte es, wobei ich vor meinem inneren Auge Lisa und Ronni sah. Wider Erwarten musste ich feststellen, dass er gut küsste und überraschend musste ich mir gestehen, dass es mir gefiel. Ich spürte seine Erregung und drängte mich stärker gegen ihn. Ich genoss es, wobei meine Erregung sich in Grenzen hielt. Ich genoss die Macht, die ich in diesem Augenblick über ihn hatte und den erhebenden Stolz, es meinem Mann heimzuzahlen.
Wenn es nach Rolf gegangen wäre, wären wir mit Sicherheit in dieser Nacht zusammen im Bett gelandet. Als er mir ins Ohr flüsterte, dass er mich liebe, mit mir sein geheimster und innigster Wunsch in Erfüllung gehen würde, zog ich noch rechtzeitig die Reißleine.
Es war nicht so, dass er optisch nicht meinen Vorstellungen entsprach. Er war groß, schlank, fast muskulös, hatte dunkelblondes Haar und ein männliches Gesicht, das immer ein Dreitagebart zierte. Man konnte mit ihm über jedes Thema sprechen und er hatte auch eine humorvolle Seite, wodurch das Flirten mit ihm mir viel Spaß bereitete. Das Fatale war, dass die Optik und die Tatsache, dass er ein geistreicher Unterhalter war, trotzdem nicht die Regungen meines Herzens ansprachen. Damit war eigentlich schon alles gesagt. Ich konnte nicht einmal genau erklären, was mich gegen eine Beziehung mit ihm unbewusst blockierte. Möglich, dass seine Bestimmtheit und seine, wie ich fand, überzogene, dominante Art das „Gesamtpaket Mann“ überlagerte und mich abstieß. Liebe? – Nein, das war überhaupt kein Thema für mich. Wir wären keine gleichwertigen Partner. Er war noch nicht einmal ein Mann, mit dem ich nur Sex haben wollte. Nicht einmal, um mich an Ronni zu rächen.
Zum Glück war er ein Mann mit Stil, gewissermaßen ein Gentleman. Er akzeptierte mein Nein, zumindest an diesem Abend. Wir setzten uns an einen Tisch, weitab der Tanzfläche und unterhielten uns. Zeitweise kam es mir vor, als hätte es diese Annäherung von vorhin nicht gegeben.
Irgendwann kamen wir auf mich, auf meinen Mann und unsere Ehe zu sprechen. Wahrscheinlich weil ich zu viel Alkohol getrunken hatte, erzählte ich ihm in einer schwachen Minute von Ronnis Seitensprung und seinen Träumen.
Ich sagte ihm auch, dass wir nach Mallorca fliegen wollten, sozusagen als Neuanfang unserer Beziehung.
„Und wenn das nicht funktioniert mit dem Neuanfang, was machst du dann?“, fragte er und schaute mich dabei unerwartet ernst an.
„Dann suche ich mir dort einen neuen Mann“, lachte ich.
„Leider stehst du dort dann nicht zur Verfügung“, fügte ich mit einem Augenzwinkern hinzu.
Er schaute mich gespielt unglücklich an. Oder war das gar nicht gespielt?
Wir sprachen noch darüber, wie schade es sei, dass nach einer so kurzen Ehe bereits solch enorme Schwierigkeiten auftraten. Dabei unterstrich ich immer wieder, dass diese Schwierigkeiten nicht durch mein Fehlverhalten aufgetreten seien, sondern Ronni allein die Schuld daran tragen würde.
Rolf war sehr mitfühlend und hatte für mich Verständnis. Leider beging ich den Fehler und ließ mich von ihm trösten. Dabei kamen wir uns erneut näher und wir küssten uns flüchtig auf den Mund. Und wieder bildete ich mir ein, Ronnis Fremdgehen zu strafen.
Obschon nicht mehr geschehen war, hatte ich das Gefühl, mit Rolf einen Verehrer zu haben, der seine Chance weiterhin suchte und in Zukunft nicht locker lassen würde. Ich ahnte damals nicht, wie Recht ich damit haben sollte.
Читать дальше