Aus islamischer Sicht hingegen gibt es einen höheren WertWert als den eines Menschenlebens: das ist der WertWert der Religiosität. Wer das religiöse Gefühl eines Menschen verletzt und damit Gott beleidigt, der hat damit sein Recht auf Leben verwirkt. Ein solcher Frevel kann nicht anders als durch den Tod gesühnt werden – so steht es auch im Koran. Der Bezirk des Heiligen ist somit schlechthin sakrosankt, und dass RUSHDIERushdie, S. in seinem Roman einen Zentralnerv des islamischen Selbstverständnisses getroffen hat, zeigen die Reaktionen auch gemäßigter Moslems, die in unserem Kulturkreis leben. Sie beurteilen RUSHDIEs Werk nicht als ein literarisches Opus, das künstlerischen Gesetzen gehorcht, sondern als einen verbalen Angriff auf einen Eckpfeiler ihrer Religion.
Die Fronten stehen sich also unversöhnlich gegenüber, und es ist zu fragen, ob wir uns ethisch richtig verhalten, wenn wir uns über den Mordaufruf empören. Sind wir vielleicht sogar verpflichtet, ihn und letztlich sogar RUSHDIEs Tod zu dulden? Diese Frage ist mit Nein zu beantworten. Wir sind ganz im Gegenteil nach den für uns verbindlichen Maßstäben zu kritischer Intoleranz aufgerufen und können dies auch rechtfertigen. Zunächst einmal haben wir das Recht, uns dagegen zu wehren, dass die Prinzipien einer regional gültigen religiösen Moral über die Grenzen ihres Geltungsbereichs hinaus ausgedehnt werden. In Europa gelten andere ethische Maßstäbe als im Iran. Wir müssen also auf unserem Boden nicht die Ausübung eines Rechts dulden, das in unseren Augen als ein Verbrechen an Leib und Leben gilt, auch wenn wir religiöse Gefühle grundsätzlich respektieren und als unverletzlich erachten.
Aber wie steht es umgekehrt mit dem Anspruch auf Geltung unserer Normen außerhalb ihres Geltungsbereichs? Müssen wir grundsätzlich alles tolerieren, was nicht auf unserem Boden geschieht; dürfen wir uns z.B. in die nach unseren Maßstäben ungerechtfertigten Hinrichtungspraktiken in anderen Ländern nicht einmischen, weil sie möglicherweise nach deren Anschauung legitim sind? Auch hier lautet die Antwort: nein. Aber diesbezüglich gilt es zu differenzieren. Wir dürfen uns nicht deshalb einmischen, weil wir meinen, eine bessere Moral oder Religion zu haben, die absolut gilt, sondern weil wir davon ausgehen, dass es auf einer übergeordneten, neutralen Ebene möglich sein muss, über solche Praktiken vernünftig miteinander zu reden. Ohne eine solche Annahme stünde eine Organisation wie Amnesty International nicht nur moralisch auf verlorenem Posten, sondern wäre sogar illegitim. Aber gerade solche Institutionen haben ja ihre Legitimation darin, dass es so etwas wie einen überregionalen Bereich gibt, in dem man sich über das, was wir als Menschenrechte bezeichnen, die jedem Menschen unangesehen seiner Rasse, Religion und Volkszugehörigkeit unverbrüchlich zustehen, verständigen kann. Wer die Rede und damit jede Kommunikation verweigert, also jeglichen Verständigungswillen vermissen lässt, muss sich Kritik gefallen lassen und Protest dazu. Kritische Intoleranz, die im Protest manifest wird, will zum Miteinanderreden herausfordern und damit zum gewaltlosen Miteinander – auch und gerade dort, wo die Gegensätze unaufhebbar zu sein scheinen. Wo jedes Gespräch abgelehnt wird, wird die eigene Position in unzulässiger Weise dogmatisch verabsolutiert, anstatt sie dem Diskurs auszusetzen und mit guten Gründen zu verteidigen, bei gleichzeitiger Offenheit für die Argumente der Gegenpartei.
Unkritische Intoleranz ist Argumenten nicht zugänglich und bedient sich nur noch der Mittel der GewaltGewalt, um die eigene Ansicht durchzusetzen. Wer unbedingte Geltungsansprüche gewaltsam durchsetzt, disqualifiziert sich eben dadurch aus ethischer Sicht und lässt erkennen, dass der von dem Betreffenden angemaßte Absolutheitsanspruch maß-los ist, d.h. sich der Haltung des Fanatikers annähert, der blind und taub für die Rechte anderer lieber den Untergang der Menschheit in Kauf nimmt als sich auf eine kritische Auseinandersetzung einzulassen. Hier wird der Protest wenig nützen, aber dennoch ist er das einzige ethisch legitime Mittel, um sich zur Wehr zu setzen.
Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass es nicht nur Gegensätze zwischen den aus einer BasisnormBasisnorm abgeleiteten praktischen Regeln, sondern auch zwischen den BasisnormenBasisnorm selbst faktisch gibt
Beispiel:
Es ist moralisch richtig, erlittenes Unrecht
auf gleiche Weise zu vergelten (zu ahnden)
zu verzeihen (nicht zu ahnden),
so lässt sich aus dieser Tatsache noch nicht schließen, dass beide Seiten der Alternative gleichwertig bzw. in gleicher Weise berechtigt sind. Vielmehr muss die Frage gestellt werden, ob nicht die eine oder die andere Seite Moralität in einer dem Menschen angemesseneren – humaneren – Weise zum Ausdruck bringt und daher vorzuziehen ist.
Der RelativismusRelativismusvorwurf wird aber auch häufig von Leuten erhoben, die der Meinung sind, die MoralMoral sei etwas bloß Subjektives, das dem Objektivitätsanspruch der Wissenschaft nicht genüge und daher wissenschaftlich auch nicht erforschbar sei. Gegen diese These hat Bernard WILLIAMSWilliams, B. das Wesentliche gesagt:
Der Subjektivist überlässt uns … dem Gefühl, dass Tatsachenmeinungen etwas Bestimmtes haben, was moralischen Einstellungen fehlt, und dass es sich dabei um etwas besonders Erstrebenswertes handelt, kurz: dass Tatsachenmeinungen und die Wissenschaft irgendwie solider sind als die MoralMoral. …
Was der Subjektivismus besagt, ist, dass Tatsachenmeinungen und wissenschaftliche Einsichten objektiv sind – aber dass wir nach ihnen streben sollten, ist keineswegs selbst eine Tatsachenmeinung oder eine wissenschaftliche Einsicht. …
Natürlich besteht dieser Gegensatz, die Moral ist etwas anderes als die Wissenschaft oder das Tatsachenwissen, und es ist absolut wesentlich, dass sie etwas anderes ist. Bei der MoralMoral kommt es nicht darauf an, die Welt widerzuspiegeln, sondern sie zu verändern; es geht bei ihr um Grundsätze des Handelns, um Entscheidungen und Verantwortlichkeit. Die Tatsache, dass gleich intelligente und gleich gut informierte Menschen in der gleichen Situation moralisch verschieden urteilen können, besagt etwas über das Wesen der MoralMoral – nämlich, dass man hier nicht einfach alles der Verfassung der Welt in die Schuhe schieben kann. Aber es besagt nicht …, dass mit der MoralMoral irgend etwas nicht stimmt. …
Der entscheidende Unterschied ist der, dass es bei moralischen Streitfragen darum geht, was getan werden sollte, und dass jede Seite sich auf die eine oder andere Weise engagieren muss. Sobald man diesen Unterschied sieht, sieht man auch, dass es unmöglich vernünftig sein kann, eine Sache nur deshalb auf sich beruhen zu lassen, weil jemand anderes mit einem selbst nicht einverstanden ist. (Der Begriff der Moral, 37, 39, 42, 43)
Nach diesen Erläuterungen der Begriffe MoralMoral und MoralitätMoralität/Sittlichkeit erledigt sich der RelativismusRelativismusvorwurf von selbst. Von RelativismusRelativismus kann nur die Rede sein, wenn man nur die eine Seite des Verhältnisses von MoralMoral und MoralitätMoralität/Sittlichkeit untersucht, nämlich alles das, was unter den Ordnungsbegriff ›Moral‹ fällt, unter Abstraktion vom Prinzip der MoralitätMoralität/Sittlichkeit.
MoralenMoral und ihre praxisregulierenden Normen sind Teil des kulturellen Selbstverständnisses einer Interaktionsgemeinschaft. Als Ensemble von gewachsenen und tradierten, mit einem Verbindlichkeitsindex versehenen Handlungsmustern sind sie ebenso vielfältig wie die KulturenKultur, die sich unter historischen, wirtschaftlichen, geographischen und geistig-religiösen Bedingungen als soziale Lebensformen herausgebildet haben. Kulturelle Vielfalt wird heute im Zeitalter einer globalen Vernetzung und eines erdumspannenden Tourismus fast nur noch als folkloristische Besonderheit wahrgenommen. Darüber gerät jedoch ein Aspekt aus dem Blick, den NIETZSCHENietzsche, F. verschiedentlich betont hat: die Abgrenzungsfunktion moralischer Wertschätzungen:
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