Leben könnte kein Volk, das nicht erst schätzte; will es sich aber erhalten, so darf es nicht schätzen, wie der Nachbar schätzt. Vieles, das diesem Volke gut hiess, hiess einem andern Hohn und Schmach: also fand ich’s. Vieles fand ich hier böse genannt und dort mit purpurnen Ehren geputzt. Nie verstand ein Nachbar den andern: stets verwunderte sich seine Seele ob des Nachbarn Wahn und Bosheit. (Also sprach Zarathustra, Teil I; Von tausend und Einem Ziele)
Was NIETZSCHENietzsche, F. zur Genealogie der Pluralität von MoralenMoral anführt, ist deshalb wichtig, weil dadurch in Erinnerung gerufen wird, dass das Gruppenethos ursprünglich der Abwehr fremder KulturenKultur diente, deren prägender Kraft ein entschiedenes Andersseinwollen entgegengesetzt wurde. Man darf somit das Feindbild nicht vergessen, welches gerade jede Gemeinsamkeit zwischen den KulturenKultur verhindern sollte und dem Ethnozentrismus Vorschub leistete. Dies erklärt manche der Schwierigkeiten, die heute eine Verständigung der Menschen über die Grenzen hinweg behindern oder gar unmöglich machen, obwohl die Menschheit immer näher zusammenrückt und in einer Welt, deren Ressourcen immer knapper werden, auf faire Kooperation angewiesen ist. Wie tief die Gräben zwischen den Kontinenten sind, hat die Kontroverse um die MenschenrechteMenschenrechte exemplarisch gezeigt, in welcher die unterschiedlichen Vorstellungen vom WertWert und von der Würde menschlicher IndividuenMenschenwürde zum Vorschein kommen.
Es bedarf jedoch eines Minimalkonsenses bezüglich des normativen Fundaments, auf welchem Interaktionen in globalem Maßstab erfolgen können. Hier ist vor allem die Ethik gefordert, die einen wesentlichen Beitrag zur Herbeiführung eines Konsenses über universal gültige Prinzipien menschlichen Handelns und die existentiellen Bedingungen guten Lebens argumentativ leisten kann. Die Voraussetzung dafür ist jedoch eine gründliche Kenntnis der in anderen KulturenKultur anerkannten und als legitimiert geltenden NormenNorm resp. WerteWert, deren praxisorientierende und handlungswirksame Kraft daraufhin zu problematisieren ist, inwieweit sie universelle Gültigkeit beanspruchen kann.
Beschreibt man also nur die Vielzahl von MoralenMoral mitsamt ihren regional unterschiedlichen NormenNorm und Wertvorstellungen, dann entsteht der Eindruck, dass im Bereich der MoralMoral letztlich alles relativ ist: Was die einen für gut halten, lehnen die anderen als unzumutbar ab. Was bei den einen als Pflicht gilt, erscheint anderen als lächerlich. Was die einen als hochstehendes Verhaltensmuster auszeichnen, das belegen die anderen mit Sanktionen. Besonders kraß treten diese Unterschiede hervor, wenn man die MoralMoral eines Westeuropäers mit der eines Kannibalen vergleicht. Materiale NormenkatalogeNorm, die Binnen- oder GruppenmoralenGruppenmoral, sind insofern relativ, als sich ihr Gültigkeitsbereich immer nur auf die Gruppe erstreckt, in der sich die jeweilige MoralMoral als natürlich gewachsene herausgebildet hat. Keine MoralMoral ist absolut und allgemeingültig. Aber daraus zu schließen, dass moralisches HandelnHandeln/Handlungmoralische(s) überhaupt relativ und letzten Endes beliebig ist, scheint mir ein Fehlschluss zu sein. Selbst wenn sich auf der Ebene der MoralMoral keine einzige materiale Form, kein einziger WertWert finden ließe, der in jeder Gesellschaft VerbindlichkeitVerbindlichkeit beansprucht, so würde das nicht bedeuten, dass in Sachen MoralMoral am Ende alles gleich-gültig ist. Zu diesem Schluss kann man nur kommen, wenn man die ethische Prinzipienebene wegstreicht und damit den unbedingten Anspruch auf MoralitätMoralität/Sittlichkeit, der sich in jeder MoralMoral, die diesen Namen verdient, als SinnanspruchSinn zum Ausdruck bringt.
Die Tatsache, dass in moralischen Disputen oft kein KonsensKonsens erzielt wird, kann somit nicht als Beleg dafür angeführt werden, dass mit der MoralMoral etwas nicht stimmt, denn:
Faktisches Verhalten kann in keiner Weise über die normative Gültigkeit einer RegelRegel oder NormNorm entscheiden.
Selbst wenn die meisten Menschen es für richtig hielten, immer dann zu lügen, wenn damit ein Vorteil für sie verbunden wäre, kann daraus noch nicht geschlossen werden, dass dieses Verhalten auch an sich richtig, also moralisch zu rechtfertigen ist. Die EthikEthik geht somit davon aus, dass Meinungsverschiedenheiten in Angelegenheiten der MoralMoral zwar nicht immer de facto, wohl aber prinzipiell entscheidbar sein müssen, nämlich durch eine Überprüfung des jeweils vertretenen moralischen Grundsatzes am PrinzipPrinzip der MoralitätMoralprinzip.
Insofern hat die EthikEthik es durchaus nicht mit einem Gegenstand zu tun, der der Beliebigkeit das Wort redet. Ihre bleibende AufgabeEthikAufgabe der besteht vielmehr darin, die Begriffe MoralMoral und MoralitätMoralität/Sittlichkeit so aufeinander zu beziehenMethodeBegriff der, dass das Bedingte vom Unbedingten, das Veränderliche vom Unveränderlichen, faktische Geltung von normativer Gültigkeit her begriffen und umgekehrt das Unbedingte, Unveränderliche, Normative auf das Bedingte, Veränderliche, Faktische bezogen wird. Der Begriff der MoralMoral bezieht sich auf etwas Relativierbares, nicht so der Begriff der MoralitätMoralität/Sittlichkeit, der als PrinzipienbegriffMoralprinzip den Anspruch der MoralMoral begründen soll, und zwar im Sinne einer Letztbegründung durch Rekurs auf ein Unbedingtes, hinter das per definitionem nicht mehr zurückgegangen werden kann.
Die Ebene der MoralMoral ist jene Ebene, auf der wir uns vor allem bei unseren alltagssprachlichen Diskursen befinden, wenn wir uns die Frage stellen, was wir in einer bestimmten Situation tun sollen, wenn wir mit bestimmten Geboten und Verboten konfrontiert werden, die uns im Konfliktfall das Handeln erleichtern oder erschweren können. Auf der Ebene der MoralMoral beurteilen wir somit singuläre Handlungen im Licht jenes Moralkodex oder Regelkanons, den wir als für die Gesellschaft, zu der wir gehören, verbindlich erachten. Auf der ethischen Metaebene hingegen werden die Normen des geltenden Moralkodex bezüglich ihrer Gültigkeit problematisiert und daraufhin befragt, ob sie als Normen auch dann noch Bestand haben, wenn man davon abstrahiert, dass sie bereits seit vielen Generationen gelten, oder dass sie von einer großen Anzahl von Menschen tatsächlich befolgt werden. Die Frage nach dem Geltungsgrund von Normen ist mithin eine ethische Frage, was nicht bedeutet, dass man nicht auch in moralischen Diskursen seine Probleme so radikalisieren kann, dass man unversehens auf die Ebene des ethischen Diskurses gerät, allerdings meistens, ohne dies zu bemerken.
Wenn Ethik das Verhältnis von MoralMoral und MoralitätMoralität/Sittlichkeit zu reflektieren hat, dann lassen sich von vornherein zwei Fehlformen einer ethischen Theorie charakterisieren, die aus einer einseitigen Perspektive hervorgehen. Eine Ethik, die bloß Phänomene der MoralMoral untersucht und dabei das PrinzipPrinzip der MoralitätMoralität/Sittlichkeit außer acht lässt, verliert sich im RelativismusRelativismus. Sie hat es nur mit Variablen, d.h. mit geschichtlich sich verändernden Handlungsmustern zu tun, für deren OrdnungOrdnung ihr die Konstanten, ein feststehendes Koordinatensystem sinnbegründender Prinzipien fehlen. Es würde sich um eine Ethik handeln, die sich ausschließlich auf der metamoralischen Ebene artikuliert, also letztlich deskriptive Aussagen erster OrdnungOrdnung macht. Umgekehrt wäre eine Ethik, die sich ausschließlich mit dem PrinzipPrinzip der MoralitätMoralität/Sittlichkeit beschäftigt und dabei die Phänomene der MoralMoral aus den Augen verliert, realitätsfern und verbliebe im Abstrakt-Spekulativen, ohne Bezug auf das, was Menschen – wenn auch auf höchst unterschiedliche Weise – wirklich tun, indem sie moralisch handeln und urteilen. Eine solche Ethik würde ausschließlich normative Sätze zweiter OrdnungOrdnung formulieren und sich nicht darum kümmern, in welcher Beziehung solche Sätze zu Menschen als endlich geschichtlichen Wesen stehen, die unter gegebenen Bedingungen handeln müssen. Gegenstand einer umfassenden Ethik kann also weder die MoralMoral noch die MoralitätMoralität/Sittlichkeit jeweils isoliert für sich sein, sondern nur das Verhältnis von MoralMoral und MoralitätMoralität/Sittlichkeit im Kontext menschlicher PraxisPraxis. PrinzipienPrinzip ohne Anbindung an eine MoralMoral, deren Sinn sie verbürgen sollen, bleiben eine unverbindliche Gedankenspielerei; MoralenMoral ohne Bezug auf ein ihre Geltungsansprüche legitimierendes normatives PrinzipPrinzip bleiben relativ und ebenfalls unverbindlich. Daher gehören MoralMoral und MoralitätMoralität/Sittlichkeit untrennbar zusammen.
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