Das ius non scriptum bildet also einen wichtigen Faktor bei der Anpassung des Rechts an veränderte Gegebenheiten. Die Frage ist nur, ob dies auch für das Familienrecht gilt. Einiges spricht dafür, dass die Gewohnheit hier eher eine beharrende Wirkung entfaltet und eine Anpassung an gesellschaftlichen Wandel mehr über Gesetzgebung erfolgt. Reiches
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Anschauungsmaterial für die retardierende Funktion des Gewohnheitsrechts bilden die Diskussionen, die römische Juristen der klassischen Epoche ( 2.3, S. 46) und Lehrer des Vernunftrechts im 18. Jahrhundert ( 4.2, S. 104) über die Frage geführt haben, wie die ungleiche Rechtsstellung von Frauen zu begründen sei. Auch in Ländern des Common Law, in England oder in den USA, erfolgte die Beseitigung rechtlicher Nachteile für Frauen meistens durch Gesetzgebung ( 6.3, S. 171und 6.4, S. 179). In eine ähnliche Richtung weisen die Erwartungen, welche die deutsche Frauenbewegung gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit einer Reform der Zivilgesetzgebung verbunden hat ( 7.2.3, S. 196). 2
Trotz der hervorgehobenen Bedeutung des Gesetzes lassen sich auch innerhalb der Frauenbewegung unterschiedliche Vorstellungen über die Entstehung des Rechts und seine Quellen feststellen. So hat z.B. Emilie Kempin in einer bemerkenswerten Schrift über das „ungeschriebne Recht“ 1897 ausgeführt, dass das Recht „immer dem Leben nachgeht“ – dass es ‚von unten‘ herauf aus der Gesellschaft wächst ( 7.3.2, S. 200). Von der Kontroverse über geschriebenes und ungeschriebenes Recht zu unterscheiden ist der Streit um die Politik der „kleinen Schritte“, den so verschiedene Gruppierungen wie die Stimmrechts- oder die proletarischen Frauenbewegung im 19. Jahrhundert entfacht haben. Der Kampf
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um das Frauenstimmrecht, der in England oder in den USA bisweilen alle anderen Forderungen verdrängt hat (G. Bock, 1978, 7), beruht auf der Vorstellung, dass sich Rechtsänderungen zugunsten von Frauen am besten über den Einfluss auf politische Parteien verwirklichen lassen. Einmal gewählt, würden die Parteien dann für eine frauenfreundliche Gesetzgebung sorgen. Hintergrund ist also der Gedanke, dass Frauen über das Wahlrecht an staatlicher Gesetzgebung beteiligt werden würden (Nachweise bei Schüler, 2012).
Die Stimmrechtsbewegung ist sich dessen bewusst, dass das Wahlrecht auf einer anderen Ebene als Einzelforderungen zum Scheidungs- oder Güterrecht angesiedelt ist. Sie geht davon aus, dass das Allgemeine über dem Besonderen steht, das Wahlrecht also zwangsläufig zu Rechtsänderungen auf der konkreten Ebene führen würde. Diese Annahme ist durch die Wirklichkeit nicht bestätigt worden. Frauen wählten oft konservativ, so dass durch das Wahlrecht als solches für Reformen einzelner Regelungsgebiete zunächst nicht viel gewonnen war (Schnitger, 1990, 94–96; Molitor, 1992, 24; Bremme, 1956, 243; Falter, 1986, 83). Als ähnlich wirklichkeitsfremd hat sich die im 19. Jahrhundert durch die proletarische Frauenbewegung propagierte und nach 1917 zunächst in der Sowjetunion und später auch in anderen sozialistischen Staaten behauptete Lösung der „Frauenfrage“ durch einen Sieg im Kampf um die „Klassenfrage“ erwiesen. Der Etatismus tritt hier in Form einer Staatsdoktrin auf, welche dem Recht als Erscheinung des Überbaus jede selbstständige Bedeutung abspricht (zur proletarischen Frauenbewegung Szymanski, 2012).
Eine Alternative zur Politik der „großen Schritte“ bieten jene Teile der Frauenbewegung, die Reformen dort anstreben, wo das Recht das Leben von Frauen unmittelbar, häufig sogar existenziell berührt. Im Gebiet der elterlichen Sorge, der Scheidung oder des Güterrechts bilden oftmals konkrete Sachverhalte den Ausgangspunkt, welche die Folgen einer Ungleichbehandlung von Frauen im Familienrecht drastisch vor Augen führen. Die von Léon Richer ( 6.2.2, S. 168), Caroline Norton ( 6.3.4, S. 176) oder Charlotte Pape ( 7.1, S. 190) präsentierten Fälle haben nicht nur in der Öffentlichkeit große Wirkung erzeugt, sondern auch zu Reformen der Gesetzgebung geführt. Es handelt sich also um Forderungen, die in besonderem Maße dazu bestimmt sind, Kräften der
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Gesellschaft Ausdruck zu verleihen. Diesen Weg, der sozusagen unmittelbar ‚von unten nach oben‘ führt, haben sowohl Anhängerinnen der Stimmrechtsbewegung als auch der proletarischen Frauenbewegung häufig als konservativ, als inhaltlich gemäßigt oder als „Politik der kleinen Schritte“ („politique de la brèche“) kritisiert ( 6.1, S. 162). Dies ist zu Unrecht geschehen, da sich aus heutiger Sicht gerade jene Lehren als überlegen zeigen, die, wie die soziologische Jurisprudenz oder der legal realism, vom Konkreten – vom „Leben“ – ausgehen, um von dort aus Vorschläge zur Anpassung des Rechts an die Wirklichkeit zu unterbreiten. Vor diesem rechtsquellentheoretischen Hintergrund muss überraschen, dass im Vergleich etwa zur Bewegung des Frauenstimmrechts gerade die Reformforderungen zum Privatrecht ein vernachlässigtes Gebiet der Frauenrechtsgeschichte sind.
1.4 Gang der Untersuchung
In der römischen Jurisprudenz (2. Kapitel, S. 41) begegnen bereits die meisten Argumente, die im Mittelalter und in der Neuzeit zur Legitimation einer ungleichen Behandlung der Geschlechter herangezogen werden. Dazu gehört auch die schon in der griechischen Antike verbreitete Behauptung, dass die weibliche „Schamhaftigkeit“ (pudicitia) oder „Leichtfertigkeit“ (levitas animi) einen Ausschluss der Frau aus dem Richterdienst oder anderen öffentlichen Ämtern rechtfertige. Diese Vorstellungen über eine weibliche „Natur“ sind aber nicht unwidersprochen geblieben. Aus Sicht der jüngeren römischen Juristen handelt es sich hier um Stereotype, die der Vernunft widersprechen und sich allenfalls auf das Herkommen (mos) oder die Gewohnheit (consuetudo) stützen lassen. Die Idee einer rechtlichen Gleichbehandlung der Geschlechter stammt aus der (jüngeren) klassischen Epoche, als altrömische Institute wie manus-Ehe oder Geschlechtsvormundschaft (tutela) aus dem Rechtsleben bereits weitgehend verschwunden waren. Das Mittelalter kennt indes keinen der römischen Antike vergleichbaren Fortschritt in der rechtlichen Bestimmung des Verhältnisses der Geschlechter (3. Kapitel, S. 71). Hier ist es bei einem durch lebenslange Gewaltunterworfenheit bestimmten
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Status der Frau geblieben. Bemerkenswert sind jedoch die vielfältigen Versuche zur Rechtfertigung der ungleichen Rechtsstellung der Frau. Sie lassen darauf schließen, dass die Einschränkungen der Handlungs- und Geschäftsfähigkeit von Frauen durch die Geschlechtsvormundschaft zumindest im Hochmittelalter zunehmend als begründungsbedürftig angesehen wurden.
Mit der Epoche von Aufklärung und Naturrecht verbindet sich die Auffassung, dass alle Menschen von Natur aus frei und gleich seien. Der Vertrag tritt an die Stelle des kirchlichen Verständnisses der Ehe als Sakrament. Welche Folgen die Naturrechtslehrer aus den Postulaten der Freiheit und Gleichheit für die Rechtsstellung der Frau gezogen haben, bildet den Gegenstand des 4. Kapitels, S. 103. Das 5. Kapitel, S. 129, handelt vom „ganzen Haus“ und der bürgerlichen Familie. Das besondere Merkmal der Sozialform des „ganzen Hauses“, die bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts herrschte, besteht darin, dass Frauen und Männer gleichermaßen erwerbswirtschaftlich tätig sind. Das Aufkommen der Industriegesellschaft führt im 19. Jahrhundert zur Trennung von privater Haus- und außerhäuslicher Erwerbsarbeit. Damit verliert das „ganze Haus“ seine zentrale Rolle für die Ordnung des Geschlechterverhältnisses. Es wird durch die bürgerliche Kleinfamilie abgelöst, die das Frauenbild der deutschen Klassik und Romantik prägt. Die neue Trennung von häuslicher und außerhäuslicher Sphäre hat in den Lehren der Historischen Rechtsschule zum Familienrecht einen folgenreichen Niederschlag gefunden.
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