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Individualisierung und Pluralisierung der Lebensverhältnisse, wie sie in der abnehmenden Zahl von Eheschließungen, der Erleichterung der Scheidung oder der Zunahme nichtehelicher Lebensgemeinschaften zum Ausdruck kommt. Die Eingehung einer Ehe wird heute nicht mehr als Selbstverständlichkeit, sondern als Folge einer bewussten Entscheidung angesehen. Überhaupt sind in den letzten Jahrzehnten die Wahlmöglichkeiten und Entscheidungskompetenzen, wie etwa im Namensrecht, erheblich erweitert worden. Die Vermehrung individueller Gestaltungsmöglichkeiten hat aber nicht zu einer Verselbstständigung des Familienrechts gegenüber dem Öffentlichen Recht geführt. Die beiden Elemente, die nach klassischer Auffassung eine Verbindung zwischen Öffentlichem Recht und Familienrecht bewirken, nämlich „Familie als Keim des Staates“ und „Herrschaft“ oder „Ungleichheit“, sind in modifizierter Form noch heute virulent.
Was den Topos von „Familie als Keim des Staates“ anbelangt, so betont die neuere Literatur wieder die Bedeutung des Familienrechts für das „Allgemeinwohl“: „Indem sie Kinder“ hervorbringe, übernehme die Familie eine dem „Selbsterhalt des grundgesetzlich verfassten Gemeinwesens dienende Funktion“. Vor allem die aktuelle demographische Entwicklung biete einen Anlass, stärker die öffentlich-rechtlichen Aspekte des Familienrechts in den Blick zu fassen. Fragen des demographischen Wandels oder der Vereinbarkeit von Beruf und Familie könnten dem Staat nicht gleichgültig sein. Das Familienrecht müsse auch über Möglichkeiten der Steuerung von Verhalten durch Gewährung finanzieller Anreize nachdenken, damit sich wieder mehr Paare für Kinder entscheiden (Seiler, 2008, 1, 18). Derartige Bezüge von Familie und Staat scheinen heute also ‚neu entdeckt‘ zu werden. Auf ideengeschichtliche Hintergründe wird dabei, soweit ersichtlich, nicht Bezug genommen.
Der zweite Gesichtspunkt, nämlich „Herrschaft“ bzw. „Ungleichheit“ scheint obsolet zu sein, nachdem die männliche Eheherrschaft durch egalitäre Konzeptionen des Familienrechts heute weitgehend abgelöst wurde. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass es „Ungleichheiten“ gerade im Zusammenhang mit der Betreuung von Kindern oder Pflege von Angehörigen auch heute noch gibt ( 9.4, S. 247). Nach dem verfassungsrechtlich verankerten Gleichberechtigungsgebot (Art. 3 Abs. 2
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Satz 2 GG) hat die Rechtsordnung für eine Kompensation von Nachteilen zu sorgen, die aus „rollenkonformem“ Verhalten resultieren. Die mit der Gründung einer Familie und der Geburt von Kindern mögliche Entstehung von Ungleichgewichtslagen zwischen den Geschlechtern trägt zwingende Elemente in die moderne Privatrechtsordnung. Ein Gebot der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern war im 19. Jahrhundert zwar noch nicht allgemein anerkannt. Nach Maßgabe von Savignys „System“ des Privatrechts bereitet es jedoch keine Schwierigkeiten, die daraus resultierenden zwingenden Elemente als „jus publicum“ innerhalb des modernen Familienrechts zu identifizieren (S. 258).
Aristoteles, Politik (hg.v. Olof Gigon), 4. Auflage (1981); Claus Bextermöller, Das Familienrecht in den Systemen der Pandektistik des 19. Jahrhunderts (1970); Jean Bodin, Sechs Bücher über den Staat (1576), hg.v. Peter Cornelius Mayer-Tasch (1981); Bill Drews, Gerhard Wacke, Wolfgang Martens, Klaus Vogel, Gefahrenabwehr. Allgemeines Polizeirecht (Ordnungsrecht) des Bundes und der Länder, 9. Auflage (1986); Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France 1977–1978 (2006), S. 449–478 (Vorlesung 12); Sten Gagnér, Über Voraussetzungen einer Verwendung der Sprachformel „Öffentliches Recht und Privatrecht“ im kanonistischen Bereich, in: Deutsche Landesreferate zum VII. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung in Uppsala 1966 (1967), S. 23–57; Janet Halley & Kerry Rittich, Critical Directions in Comparative Family Law: Genealogies and Contemporary Studies of Family Law Exceptionalism, in: The American Journal of Comparative Law 58 (2010), S. 753–775; Duncan Kennedy, Two Globalizations of Law & Legal Thought (1850–1968), in: Suffolk University Law Review 36 (2003), S. 631–679; ders., Savigny’s Family / Patrimony Distinction and its Place in the Global Genealogy of Classical Legal Thought, in: American Journal of Comparative Law 58 (2010), S. 811–841; Johann Heinrich Wilhelm Kirchhoff, Gesinde-Recht nach Grundsätzen des Gemeinen und Preußischen Rechts und mit vorzugsweiser Berücksichtigung der Provinzial-Gesetze und Statute in Neu-Vorpommern und Rügen (1835); Ferdinand Regelsberger, Pandekten, 1. Band (1893); Moritz Renner, Zwingendes transnationales Recht. Zur Struktur der Wirtschaftsverfassung jenseits des Staates (2011); Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. I (1840); Rainer Schröder, Das Gesinde war immer frech und unverschämt. Gesinde und Gesinderecht vornehmlich
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im 18. Jahrhundert (1992); ders., Gesinderecht im 18. Jahrhundert, in: Gotthardt Frühsorge, Rainer Gruenter, Beatrix Freifrau Wolff Metternich (Hg.), Gesinde im 18. Jahrhundert (1995), S. 13–39; Christian Seiler, Grundzüge eines öffentlichen Familienrechts (2008); Thomas Simon, „Gute Policey“. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit (2004); Michael Stolleis, Öffentliches Recht und Privatrecht im Prozeß der Entstehung des modernen Staates, in: Wolfgang Hoffmann-Riem, Eberhard Schmidt-Aßmann (Hg.), Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen (1996), S. 41–61; Anton Friedrich Justus Thibaut, System des Pandekten-Rechts, 1. Band, 1. Auflage (1803); Thomas Vormbaum, Politik und Gesinderecht im 19. Jahrhundert, vornehmlich in Preußen 1810–1918 (1980).
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1In der Analogie zum Eltern-Kind-Verhältnis liegt auch der Grund, warum das Gesinderecht in das Gebiet des Öffentlichen Rechts, insbesondere des Polizeirechts eingeordnet wurde (Vormbaum, 1980, S. 140, S. 149; siehe auch Fußnote 56, S. 131).
1. Kapitel Grundlagen und Gang der Untersuchung
Das Familienrecht ist ein relativ junges Fach. Dies gilt vor allem für die Länder des „Common Law“. So hat der US-amerikanische Rechtstheoretiker Duncan Kennedy jüngst behauptet, das Familienrecht existiere in der „Common Law world“ als selbstständige Disziplin erst seit Kurzem (2010, 813). Ähnliche Aussagen finden sich bei englischen Rechtswissenschaftlern. In Deutschland kann das Familienrecht immerhin auf eine Tradition zurückblicken, die bis ins 19. Jahrhundert führt. Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) war der erste, der dem Eherecht der bürgerlichen Familie innerhalb des Rechtssystems einen selbstständigen Platz zugewiesen hat. Dies geschah freilich in einer Zeit, als die ungleiche Behandlung der Geschlechter im Recht, wenn überhaupt, nur von einer kleinen Minderheit angezweifelt wurde. Es herrschte ein Rollenverständnis, wonach der Mann in der Ehe befehlen durfte und die Frau gehorchen musste. Diese Vorstellungen sind heute überholt. An ihre Stelle ist die Idee einer formalen Gleichheit der Geschlechter getreten, die aber ebenfalls Probleme aufwirft. Denn formale Gleichheit kann dort zu Ungleichheiten führen, wo tatsächliche Unterschiede bestehen. Beispiele sind die aktuell im Unterhalts- oder Ehegüterrecht geführten Diskussionen. Die Forderung nach einem geschlechtergerechten Familienrecht ist also bis heute virulent geblieben.
Mit welchen Argumenten haben Juristen die ungleiche Behandlung der Geschlechter gerechtfertigt? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit sich Recht ändert und gewandelten Lebensverhältnissen anpasst? So lauten die Fragen, von denen der folgende Versuch einer „Geschichte des Familienrechts“ seinen Ausgang nimmt. Dabei ist zu beachten, dass die rechtlichen Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis und die Forderungen nach ihrer Überwindung nicht nur eine nationale, sondern auch eine internationale Geschichte haben.
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