Warum ist gegen die Rezeption des römischen Familienrechts „fast immer unbedingter Widerstand“ geleistet worden? (Wieacker, 1967, 194, 229). In welchem Punkt weicht die „individuelle Volksanschauung“ der Römer von jenen Auffassungen ab, die nicht nur im Mittelalter, sondern auch in den großen Kodifikationen der Aufklärung bis hin zum BGB von 1900 dominieren? Darauf gibt es eine einfache Antwort: Geschlechtsvormundschaft, munt, mundium, Ehevogtei oder Ehegewalt sind Begriffe, die bis ins 20. Jahrhundert galten und mehr oder weniger alle das gleiche sagen, nämlich dass die Frau dem „Haupt der Ehe“ Gehorsam schuldet. Zwar räumte das altrömische Recht mit der manus-Ehe dem Mann eine ähnliche Vormachtstellung ein. Die manus-Ehe und verwandte Institute waren im Rom der klassischen Epoche aus dem Rechtsleben jedoch schon fast überall verschwunden. Gegenstand der Rezeption hätte also nur ein Familienrecht werden können, das keine Ehegewalt mehr kannte und der Frau eine weitgehende rechtliche Selbstständigkeit gewährte (Fußnote 4, S. 43). Dieser Umstand, und nicht die Tatsache der Rezeption, ist letztlich der Grund, warum das römische Recht den idealen Ausgangspunkt für einen doppelten Vergleich, also für einen Vergleich nicht nur in geographischer, sondern auch in temporaler Hinsicht bieten kann. Oder anders ausgedrückt: Die Entwicklung innerhalb des römischen Rechts von einem streng patriarchalen zu einem durch egalitäre Elemente geprägten Familienrecht erregt heute ebenso Interesse wie die Argumente, die Juristen zur Rechtfertigung der ungleichen Behandlung
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der Geschlechter gebrauchten. Auch einige Anhängerinnen der bürgerlichen Frauenbewegung haben im römischen Recht ein Vorbild gesehen, jedoch mit einer Einschränkung: Während sie das zu ihrer Zeit geltende Recht verschiedener Länder vergleichen und sich insoweit ein eigenes Bild machen konnten, war ihnen auf Grund des Ausschlusses vom Studium an den Universitäten der unmittelbare Zugang zu den Quellen des römischen Rechts noch versperrt (näher S. 43).
„Was wir als Anfänge glauben nachweisen zu können, sind ohnehin schon ganz späte Stadien“ (J. Burckhardt, 1905, 7). Rom steht am Ende der Antike und die Menschheit hat bereits zuvor Tausende von Jahren erlebt, in denen die unterschiedlichsten Eheformen praktiziert wurden. In der Literatur ist viel darüber diskutiert worden, ob von den altsteinzeitlichen Jäger- und Sammlergesellschaften über das Neolithikum bis zu den Funden der ersten schriftlichen Quellen die Raub- oder Entführungsehe herrschte und ob diese dann durch die Kaufehe abgelöst worden sei. Unter „Kaufehe“ pflegen wir eine Art Brautkauf zu verstehen, zu dem gewisse Gaben des Bräutigams an den Gewalthaber der Braut, in der Regel also den Vater, gehören. Dabei erscheint die Frau lediglich als Objekt, das durch den Kauf in die Gewalt des Erwerbers gelangt. Das Abstoßende an der Idee, dass die Frau wie eine Sklavin oder Kuh übereignet wird, hat manche Forscher dazu gebracht, die Existenz einer Kaufehe überhaupt zu leugnen und sich stattdessen mit der Idee eines Mutterrechts anzufreunden, welches das Geschlechterverhältnis früher Zeiten in einem günstigeren Licht erscheinen lässt (Geary, 2006). Insbesondere unter Germanisten war im 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Mythos von einem frauenfreundlichen Ursprungsrecht verbreitet. Auch auf die Frauenbewegung vermochten diese Ideen eine gewisse Anziehungskraft auszuüben (L. Braun, 1901, 3, 4). So meint z.B. die Mitbegründerin der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung, Louise Otto-Peters, „das alte römische Recht“ habe die vorteilhaftere „altgermanische Ansicht von den Frauen verdrängt“ (Otto-Peters, 1876, 6). Ähnlich ist in den skandinavischen Ländern die Auffassung verbreitet, dass die Wikinger den Frauen eine vergleichsweise freie Rechtsstellung eingeräumt hätten und hier die Ursache dafür liege, dass in Schweden oder Norwegen ein egalitäres Familienrecht schon frühzeitig verwirklicht werden konnte (Nachweise bei Willekens, 2012).
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Andererseits lehrt gerade die Familienrechtsgeschichte, dass die Vergangenheit nicht nur eine Vorgeschichte der Gegenwart ist, sondern auch ein eigenständiges und zugleich fremdes Gebiet sein kann. Zur Vorstellung, dass die Ehefrau wie eine Sklavin oder ein Stück Vieh gekauft wurde, kann nur gelangen, wer einen modernen Begriff des Eigentums auf frühere Zeiten projiziert. Denn das Merkmal des modernen Eigentums besteht darin, dass es nach der Beschaffenheit von Objekten nicht unterscheidet. Frühen Rechtskulturen ist eine derart abstrakte Vorstellung vom Eigentum unbekannt: Sie kennen nur ein Herrschaftsrecht an Sachen, dessen Inhalt nach diesen differenziert wird. Einem solchen Rechtsdenken bereitet es denn auch keine Probleme, sich ein „Eigentum“ des Mannes an seiner Frau vorzustellen, das vom Kauf einer Sklavin oder eines Stücks Vieh völlig verschieden ist. Die Kaufehe braucht daher nicht in allen Fällen als Indiz für ein „primitives“ Niveau einer bestimmten Kulturepoche genommen werden (Koschaker, 1937, 80, 81).
Die folgende Darstellung zielt nicht darauf, eine Übersicht über die ältesten Eheformen zu geben. Das altrömische Recht soll den Ausgangspunkt bilden, weil es die Möglichkeit eröffnet, einige Merkmale früher Rechtskulturen zumindest exemplarisch zu behandeln. Von Instituten wie patria potestas, manus oder tutela führt eine Linie zum Frühmittelalter über die Epoche der Aufklärung bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, als nach Inkrafttreten des BGB über das Fortleben einer manus- oder munt-Ehe (in § 1354) wieder lebhaft diskutiert wurde. Die Argumente der klassischen römischen Juristen kommen, soweit sie auf egalitäre Ansätze hinauslaufen, in den mittelalterlichen und neuzeitlichen Diskursen dagegen nur selten vor. Vereinzelt begegnen aber auch sie, und zwar vornehmlich bei Autoren der Aufklärungsepoche, die das Postulat der Gleichheit aller Menschen auf das Geschlechterverhältnis anwenden. Dieser Befund führt zu der grundsätzlichen Frage: Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, damit es im Ehe- und Familienrecht zu einer Änderung überhaupt kommen kann? Lassen sich die Lehren von der Rechtsentstehung und den Rechtsquellen auch auf das Familienrecht ohne Weiteres anwenden? Die These ist, dass Gesetz und Gewohnheit hier oftmals in vertauschten Rollen auftreten.
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1.3 Reformforderungen zum Familienrecht: Rechtsquellentheoretische Aspekte
Was die Lehren von den Rechtsquellen anbelangt, so gibt es zwei Auffassungen, die bis heute spannungsreich geblieben sind. Danach ist zu unterscheiden zwischen Normen, die ‚von oben‘ kommen – die eine über der Gesellschaft stehende Autorität befohlen hat, und Normen, die unabhängig von irgendeinem dominierenden Willen, gleichsam spontan, ‚von unten‘ herauf aus der Gesellschaft wachsen. Seit der Antike pflegen Juristen diese unterschiedlichen Vorstellungen über die Rechtsentstehung mit der Einteilung in geschriebenes (scriptum) und ungeschriebenes (non scriptum) Recht zu veranschaulichen, wobei das ius scriptum dem Willen eines staatlichen Gesetzgebers und das ius non scriptum den Kräften der Gesellschaft Ausdruck verleihen soll. Als Beispiele für ein solches nicht vom Staat, sondern aus dem Kreise der Gesellschaft produziertes Recht wären zu nennen: das Gewohnheitsrecht, das von Verbänden in Satzungen autonom gesetzte Recht und das Juristen- bzw. Richterrecht, also vor allem das durch Interpretation gewonnene Recht.
Die praktischen Vorteile des Gewohnheitsrechts entsprechen nach allgemeiner Meinung den Nachteilen des Gesetzesrechts. Bereits der Redaktor des Allgemeinen Teils des BGB, Albert Gebhard, erkannte, „daß die Kodifikation eines Rechts nie eine vollständige sein könne, daß bei der Vielgestaltigkeit des Lebens fort und fort neue Verhältnisse entstehen“ und „daß die infolge dessen entstehenden Rechtslücken einer Ausfüllung“ durch Gewohnheitsrecht bedürfen. Durch Gewohnheitsrecht gewinnt die Rechtsordnung „an Elastizität und an der Fähigkeit, sich jederzeit alsbald dem Leben anschmiegen“ zu können (Gebhard, 1881, 83–86). Noch heute herrscht die Auffassung, dass größere Flexibilität, Sachnähe der Rechtsetzer und Akzeptanz bei den Betroffenen zu den Vorteilen des ungeschriebenen Rechts gehören (Nachweise bei Meder, 2009, 1–2).
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