Inagoro hob die Hand. Der Soldat, der schon mit seinem Schwert ausholte, erstarrte, ließ dann das Schwert sinken. Der Älteste lächelte dünn, erhob sich und ging sein Messer holen. Er hielt es Inagoro unter die Nase. Etwas Grünes war daran aufgespießt, das mit acht dünnen Beinen zappelte.
„Und die sind dort auch. Hier im Dorf halten wir sie kurz. Aber im Schilf werdet ihr sie auf jedem zweiten Blatt finden. Ihr Biss ist nicht tödlich. Aber er schmerzt höllisch. Ich garantiere Euch, ein Soldat, der von einer Sumpfspinne gebissen wird, kämpft mindestens drei Tage nicht mehr.“
„Eure Argumente sind stichhaltig“, gab Inagoro zu. „Dann bleibt wirklich nur der Flusslauf.“
Besagten Flusslauf hätten sie am vierten Tag wohl ohne Enki nicht einmal gefunden. Der Tsaomoogra schien sich in tausend Arme zu verästeln. Die meisten von ihnen endeten als Sackgassen. „Das reinste Labyrinth. Wie finden die Handelsschiffe hier durch?“
Enki zuckte mit den Schultern. „Genauso wie Ihr, mein König. Sie brauchen einen Lotsen, der hier aus der Gegend stammt.“
Inagoro erschlug eine weitere Mücke. „Wie weit ist es noch?“
„Wir müssten den Schlupfwinkel der Piraten morgen erreichen.“
Dann war dieses elende Dorf vor ihnen die letzte Station. Den Göttern sei Dank. Inagoro war es gründlich leid, in stinkenden Schilfhütten zu schlafen.
Immerhin waren die Leute gastfreundlich. Sie versorgten ihren Herrn und König sogar mit einer jungen Frau, die sein Lager teilte und deren Gegenwart wundersamerweise die Mücken fernzuhalten schien. Sie lachte, als er sie darauf ansprach. „Das ist das Kaui-Öl. Jeder hier benutzt es.“
Inagoro hatte den Ältesten gesagt, dass er am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang los wollte. Die Piraten sollten gründlich überrascht werden. Die Dorfleute hatten sich nicht dazu geäußert, aber als Inagoro mit dem ersten grauen Streifen am Horizont aufstand, war das Frühstück für ihn und seine Soldaten bereits bereitet. Er aß schnell und mechanisch und war auf seinem Boot, sobald es hell genug war, die Umgebung einigermaßen zu erkennen.
„Herr, wartet!“ Das war die junge Frau, die ihn in der Nacht verwöhnt hatte. „Ihr habt doch darüber geklagt, dass die Mücken Euch förmlich auffressen. Wollt ihr nicht etwas von dem Kaui-Öl mitnehmen?“
Selbstredend wollte Inagoro. Er hieß die Ruderer zu warten. Die junge Frau eilte zur Hütte zurück und verschwand darin.
Der Himmel wurde heller. Der Horizont wies jetzt bereits einen rosa Streifen auf. Inagoro war drauf und dran, auch ohne das Öl aufzubrechen.
Dann kam sie wieder aus der Hütte, einen schweren Krug auf ihrer Hüfte. Sie balancierte ihn vorsichtig zu seinem Boot. „Ich habe mir gedacht, dass Ihr mehr davon brauchen könnt. Nicht nur für Euch, meine ich.“
Sieh an, die Kleine dachte mit! Inagoro lächelte, bedankte sich, ließ den Krug sorgfältig zwischen den Sitzbänken verstauen und gab endlich den Befehl zum Aufbruch.
Die Piraten waren ausgeflogen. Vermutlich unmittelbar vor ihrer Ankunft, denn die Kochfeuer brannten noch, die Töpfe hingen noch darüber. Sie mussten gewarnt worden sein. Und da dieses Mal ihre Schiffe sie nicht verraten haben konnten, gab es nur eine Möglichkeit.
„Die Dorfleute!“ Inagoro musterte den Krug mit dem Kaui-Öl mit finsterem Blick. „Sie haben mich reingelegt. Haben mich damit lange genug aufgehalten, dass eines ihrer eigenen Boote vor mir losfahren und die Piraten warnen konnte.“
Er ließ alles im Dorf der Piraten zerstören.
Auf dem Rückweg machten sie in dem gleichen Dorf wie am Abend zuvor wieder Halt. Die Dorfbewohner waren genauso spurlos verschwunden wie die Piraten. Inagoro ließ auch dieses Dorf zerstören.
Zweimal der gleiche Reinfall. Mit einem Gegner, den man nicht zu packen kriegte, war kein Staat zu machen. Inagoro verdoppelte seine Patrouillen. Irgendwie musste er doch die Piraten finden können!
Die Piraten fanden ihn. Genauer gesagt, seine Männer.
Als das erste Boot nicht zurückkam, dachte er sich nichts dabei. Ein Unglücksfall. Vielleicht hatten sie einen treibenden Baum gerammt. Oder sich mit einem besonders großen Krokodil angelegt.
Dann fehlten zwei Boote.
Inagoro ließ die Boote nur noch im Verbund ausfahren. Mindestens vier Boote zusammen.
Von den sechzehn Booten, die er dieses Mal losgeschickt hatte, kam ein einziges zurück, nur noch mit der Hälfte der Männer besetzt. Der Dienstälteste von ihnen, ein graubärtiger Soldat, erstattete Bericht.
„Wir sind vorschriftsmäßig gefahren, immer zwei Boote nebeneinander, keine fünf Bootslängen auseinander, alle vier. Und dann kamen sie plötzlich angeschossen, aus diesen schmalen Krokodilslöchern im Schilf, wo keines unserer Boote durchpasst. Schmale, leichte, hochbordige Plankenschiffe, nichts so Schwerfälliges wie diese Sumpf-Flachboote, mit denen wir unterwegs sind. Sie sind zwischen uns durchgeschossen wie Rennpferde zwischen Ochsen. Die Hälfte unserer Männer war bereits tot, bevor wir überhaupt nach den Waffen greifen konnten. Den Hauptmann haben sie zuerst erledigt. Danach wusste keiner von uns so recht, was wir machen sollten, und wir sind einfach zurückgerudert. Die haben uns die ganze Zeit umrundet. Das vordere linke Boot ist überhaupt nicht mehr weggekommen, da waren gleich drei von den Piratenbooten. Unsere Männer waren tot, bevor wir außer Sicht waren. Wir anderen drei sind kaum vorwärtsgekommen. Schließlich haben die ganz hinten angehalten und sich den Piraten zum Kampf gestellt, damit wir anderen wegkamen. Ich konnte noch sehen, wie das Boot geentert wurde. Und dann haben sie uns mit Pfeilen beschossen, und an den Pfeilen waren so kleine Behälter, und als die aufgeschlagen sind, sind die kaputtgegangen, und da waren diese kleinen Mistspinnen drin. Sie haben viele von uns gebissen, manche mehrfach. Die, die es am schlimmsten erwischt hatte, konnten sich vor Schmerzen nicht mehr rühren. Wir haben alle, die sich noch bewegen konnten, auf ein Boot gepackt und sind so schnell es ging weggerudert. Ich habe gesehen, wie die, die auf dem anderen Boot zurückblieben, von den Piraten ins Wasser geworfen wurden. Sie haben noch gelebt, als sie reingeworfen wurden.“
Und im Wasser hatten die Krokodile gewartet.
So ging es nicht weiter. Er brauchte endlich einen Erfolg. Nicht nur seine Soldaten wurden langsam mürbe. Er musste etwas ganz anderes versuchen.
Inagoros Finger trommelten auf den schmalen Tisch. Da war doch diese ganz spezielle Taktik gewesen, mit der seinerzeit der berühmte Feldherr Kaguiki die Nomadenstämme erfolgreich aus der Grasebene vertrieben hatte. Wenn er die ein bisschen abwandelte … So sehr unterschied sich der Schilfsumpf nicht von dem endlosen Grasmeer, das der Süden Karapaks damals noch gewesen war.
Er musste den richtigen Wind abwarten.
Es war ein zermürbendes Warten. Der Wind blies überhaupt nicht, oder aus der falschen Richtung. Nicht mehr lange, und die Regenzeit begann. Dann konnte er nur noch seinen Plan vergessen und sich zurückziehen. Inagoro wurde nervös und reizbar, die Männer gingen ihm aus dem Weg.
Dann kam der Morgen mit dem richtigen Wind. Befehle liefen von Boot zu Boot. Kleine Fässer wurden verteilt. Die rekrutierten einheimischen Ruderer schauten verblüfft auf die vielen Pfeile, die zusätzlich an Bord gebracht wurden. Die Boote fuhren los, ein jedes zu einem anderen Seitenkanal auf der windabwärts gelegenen Seite des Hauptarmes. Dort wurden zur Mittagszeit die Fässer geöffnet.
Als die einheimischen Ruderer sahen, was die Fässer enthielten, wurden sie unruhig, konnten nur mit Waffendrohungen niedergehalten werden. Auf einigen Booten kam es zum offenen Aufstand. Das waren diejenigen, deren Heimatdörfer auf der windabwärts gelegenen Seite lagen. Diese spontanen Aufstände wurden blutig beendet. Dann wickelten die Soldaten die pechgetränkten Lappen um die Pfeile, entzündeten sie und schossen die Flammen in den Schilfwald.
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