Das war endlich ein Argument, das der Thronrat verstand. Bauwerke, die nicht ausgeführt werden konnte, Steuereinnahmen, die der Staatskasse fehlten. Der versammelte Thronrat empfahl dem König einstimmig, den Piraten den Krieg zu erklären.
*
Niemand, der seine Sinne beisammen hatte, führte während der Regenzeit Krieg in den Sümpfen. Inagoro wartete, bis die Regenzeit vorbei war und der Wasserstand des Tsaomoogra sich normalisierte.
Dann zog er seine Truppen zusammen.
Er deklarierte seinen Feldzug allerdings nicht als Krieg. Natürlich nicht. Alleine das Wort Krieg reichte schon, um die halbe Bevölkerung in Panik zu versetzen. Außerdem hätte er dann die Kaufleute und Händler empfindlich in Unruhe versetzt.
Nein, Inagoro deklarierte seinen Feldzug als Strafexpedition.
*
Piraten waren eine Sache. Mücken eine ganz andere. Falls Inagoro bislang gedacht hatte, dass Sawateenatari während der Regenzeit ein Mückenparadies war, wurde er jetzt eines Besseren belehrt. Das wahre Mückenparadies lag hier im Delta. Gegen die blutrünstigen kleinen Stechsauger waren selbst die Krokodile nicht mehr als eine unangenehme Randerscheinung. Fluchend schlug er wieder zu. Die Mücke war tot. Sein Arm juckte trotzdem. Wie machten die Einheimischen das nur, inmitten dieser Mückenschwärme so stoisch ruhig zu bleiben?
Einer dieser Einheimischen stand gerade vor ihm und behauptete dreist, dass es hier keine Piraten gäbe. Weit und breit nicht, im ganzen Delta nicht, und hier schon gar nicht.
„Ach ja?“ Inagoros Augenbrauen schossen in die Höhe. „Nun, dann bist du nutzlos für mich. Werft ihn den Krokodilen vor.“
Die Wachen ergriffen den Mann und zogen ihn fort.
„Halt, wartet, nicht! Mir fällt gerade doch noch einer ein!“
Inagoro gab den Wachen ein Handzeichen, den Mann wieder zurückzubringen. Sie schleiften ihn nicht gerade besonders sanft über die Schiffsplanken und warfen ihn vor Inagoro auf den Boden.
„Sieh an“, bemerkte er trocken. „Dein Gedächtnis ist offenbar doch noch nicht völlig zu Sumpfbrei geworden. Dann erzähl mir mal, was dir doch noch eingefallen ist.“
Der Mann presste seine Stirn auf dem Boden. „Majestät, verzeiht, bitte, mein Fehler, ich habe nicht nachgedacht. Da ist tatsächlich jemand, den ihr als Piraten bezeichnen könnte. Zumindest habe ich gehört, er hätte vor zwei Monden mit vorgehaltenen Waffen von den Schiffen der Gewürzgilde eine gute Summe Geld erpresst.“
„Würde mich auch ausgesprochen wundern, wenn es eine andere Bezeichnung als ‚Pirat’ für so jemanden gäbe.“
Der Mann murmelte etwas Unverständliches.
„Wie bitte?“
Er bekam keine Antwort. Inagoro winkte dem Zuchtmeister. Der Mann trat vor, holte aus. Der Peitschenhieb hinterließ auf dem Rücken des Knienden einen blutigen Streifen.
„Also, was hast du gesagt?“
Der Mann aus dem Delta hob den Kopf von den Planken und blickte trotzig hoch. „Steuereintreiber, habe ich gesagt.“
Einen Moment schien jeder auf dem Schiff den Atem anzuhalten. Dann lachte Inagoro los. Nach kurzem Zögern fielen die Soldaten verhalten mit ein.
„Steh auf“, bedeutete er dem Mann. „Wie heißt du?“
„Enki.“
„Enki, es gibt nicht viele Bürger Karapaks, die es wagen würden, so mit ihrem König zu reden. Ich honoriere deinen Mut und lasse dich leben. Du wirst, solange ich hier im Delta bin, als mein direkter Berater fungieren.“ Er trat an den Mann heran, fasste unter sein Kinn und zog ihn hoch, so dass sie sich Auge in Auge gegenüberstanden. „Allerdings solltest du dir einer nicht ganz unerheblichen Kleinigkeit bewusst sein, Enki. Wenn du mich je wieder belügst, bist du Krokodilfutter. Unwiderruflich.“
Enki belog ihn kein zweites Mal. Inagoro war sich jedoch sicher, dass der Sumpfbewohner ihm die eine oder andere Wahrheit schlichtweg verschwieg. Er wusste nur nicht, wollte Enki die Piraten schützen, oder tat er es aus Prinzip, weil die Bewohner des Deltas den karapakischen Eroberern auch nach zwei Generationen noch immer nicht trauten?
Enki führte ihn tatsächlich zu einem Piratennest.
„Leer. Ausgeflogen.“ Der Hauptmann starrte nicht weniger düster als Inagoro auf den leeren Platz zwischen den Hütten. Mit der Stiefelspitze schob er die Asche der Feuerstelle auseinander. Darunter glomm es noch schwach. „Sie sind gewarnt worden.“ Er sah zu Enki herüber.
„Unmöglich. Der Mann stand die ganze Zeit praktisch neben mir.“ Inagoro sah zu seinen Schiffen herüber. Die breiten, hohen Rümpfe leuchteten ochsenblutrot über das grüngelbe Schilf. Die Fahne hing schlaf am Mast, hier im Delta regte sich kein Lüftchen. „Sie brauchten wohl auch keine Warnung außer der, die wir ihnen selbst gegeben haben. Wie hoch ist das Schilf? Kaum mehr als zwei Köpfe über Mannshöhe. Unsere Schiffe liegen zweieinhalb Mannslängen über der Wasserlinie. Gut für Transporte, aber miserabel, wenn man in so flachem Gelände ungesehen irgendwohin kommen möchte. Wir brauchen andere Schiffe.“
Der Hauptmann runzelte die Stirn. „Schiffe zu bauen braucht Zeit.“
„Habe ich gesagt, dass ich sie bauen will? Hier im Sumpf hat so gut wie jeder ein Schiff. Wir werden die, die wir brauchen beschlagnahmen. Du wirst dafür sorgen. Wenn wir das nächste Mal losfahren, wird uns niemand vorzeitig sehen können.“
Die Sumpfleute waren nicht gerade begeistert, als die königliche Marine ihnen die besten Schiffe konfiszierte. Aber angesichts einer Tausendschaft schwer bewaffneter Soldaten beschränkten sich ihre Proteste auf leises Murren und ein paar geschüttelte Fäuste. Der Hauptmann beschlagnahmte auch gleich noch die notwendigen Arbeitskräfte, da seine Soldaten, wie er ganz richtig annahm, absolut keine Ahnung hatten, wie die flachen, schmalen Sumpfboote zu handhaben waren.
Den Soldaten war es nicht ganz geheuer, dass sie jetzt auf Augenhöhe mit den Krokodilen verkehrten. Aber was konnten sie schon tun, außer dem guten Beispiel ihres Anführers und Königs zu folgen?
Enki wusste, wohin die Piraten ausgewichen waren. In das große Schilfmeer an der rechten Uferseite flussabwärts. Eine eintönige Fläche, bewachsen mit hohem Schilfgras, die von keinem Baum und keiner Anhöhe unterbrochen wurde und sich bis zum Salzwasser erstreckte. Die Hütten der Dörfer darin waren mit Schilf gebaut und gedeckt und von ihrer Umgebung kaum zu unterscheiden. Die Dörfer waren so klein, dass die Soldaten auf den Booten übernachten mussten, und lebten ganz offensichtlich nur von Fisch, Krokodilfleisch und gerösteten Schilfwurzeln. Jedenfalls war es das, was man Inagoro und seinen Soldaten zu Essen vorsetzte.
Der Tsaomoogra floss so langsam, dass er fast stand, und das wenige Land, das aus seinen trübbraunen Fluten auftauchte, bestand aus stinkendem Schlick. Inagoro verlor fast die Geduld. Dank der zahllosen, ausgiebigen Mäander des Flusslaufes, waren sie am nächsten Abend kaum näher an der Mündung als am Tag zuvor, trotz eines ganzen Tages angestrengten Ruderns. Aber als er in dem dritten Dorf abends erwähnte, dass es vielleicht schneller sei, einfach eine Schneise durch das Schilf zu schlagen und zu Fuß zu gehen, sahen ihn Enki und die Dorfältesten an, als sei ihm ein zweiter Kopf gewachsen.
„Wenn Ihr unbedingt sterben wollt …“
„Wieso?“
„Im Schilf leben die schwarzen Büffel. Die greifen alles an, was sich in Ihrer Nähe bewegt.“
„Ich habe schon mehr als einen Büffel gejagt“, knurrte Inagoro.
„Und es sind Schlangen darin. Jede Menge. Jede einzelne von ihnen tödlich giftig. Nur Selbstmörder gehen durch das Schilf.“
Der Dorfälteste hatte plötzlich ein Messer in der Hand. Noch bevor auch nur einer von Inagoros Begleitern reagieren konnte, flog das Messer durch die Luft. Mit einem satten „Tokk“ landete es in einem der Stützbalken hinter ihm.
Читать дальше