Taephe wurde erneut schwanger.
Die Karapakierin gab eine bessere Gattin ab, als Oke befürchtet oder erhofft hatte. Nur ihr Aussehen und ihr Akzent verrieten noch, dass sie nicht im Norden geboren worden war. Sie nahm die Fische, die Oke gerade erst gebracht hatte, aus, als habe sie niemals in ihrem Leben etwas anderes getan. Ihre Haut war gebräunt von der Sommersonne, und ihre Wangen leicht gerötet, während sie lebhaft mit Ala diskutierte und dann über etwas lachte, das die ältere Frau gerade gesagt hatte. Oke trat hinter sie, zog sie an seine Brust. Ihr Körper war warm und weich. Seine Hand glitt von ihrer Brust nach unten. In dem Maße, in dem der Sommer voranschritt, hatte sich auch Taephes Bauch gerundet. Oke streichelte über die Wölbung. Das Kind trat kräftig. Ob es wieder ein Sohn werden würde? Taephe war fruchtbar. Oke freute sich schon auf eine ganze Horde schwarzhaariger Kinder.
Zuvor allerdings würde es zum Mittsommerfest eine ganz besondere Zeremonie geben.
Hier oben im Norden ging die Sonne in der Mitte des Jahres überhaupt nicht mehr unter. Ein Schauspiel, an dem Taephe sich nicht sattsehen konnte, auch wenn es ihr immer ein bisschen unheimlich blieb, genauso wie jene Tage im Winter, wenn die Sonne ganz fort blieb und bunte Feuer über den Himmel flackerten.
Im Winter kamen die Frostgeister. Im Winter war ihr dritter Sohn gestorben. Taephe war sehr froh, dass dieses Kind im Sommer zur Welt kommen würde. Okes Hand war hart und schwielig, aber warm, und sie bewegte sich behutsam über ihren Bauch. Oke war ganz anders als Shioge. Taephe war sich immer noch nicht sicher, warum Oke sie hatte heiraten wollen, aber er war freundlich zu ihren Söhnen, unterrichtete sie wie seine eigenen Kinder, gab seinen Frauen, was immer sie brauchten, und sorgte dafür, dass auch ihre Lust Erfüllung fand.
Ihre Söhne liebten Oke. Vermutlich betrachteten sie eher ihn als Shioge als ihren Vater. Shioge hatten sie ja kaum gekannt. Und jetzt wollte Oke ihren jüngeren Sohn Okano adoptieren. Eigentlich hatte er beide Jungen adoptieren wollen, aber Taephe hatte sich gesträubt. Sie war Shioge einen Erben schuldig. Wenigstens einer der Jungen sollte ein Karapakier bleiben.
Jedenfalls, es würde ein Fest geben. Ein großes Fest, und wenn sie die Nordleute richtig beurteilte, ein Fest, dass wie alle anderen auch in viel Met, lauten Liedern und ungehemmter Lust enden würde. Es sollte ihr recht sein. Oke war vorsichtig genug, wenn er sie in sein Bett rief. Und Taephe wusste aus Erfahrung, dass ein dicker Kinderbauch kein Grund war, keinen Spaß im Bett zu haben.
Okes Hand rutschte etwas tiefer auf ihrem Bauch. Unwillkürlich presste Taephe sich dagegen. Ja, es würde ihr sehr recht sein.
Der Schamane war extra gekommen. Auf einem der nahen Hügel wartete er neben einem großen Holzstoß. Festlich gekleidet und in bester Laune strebten alle Dorfbewohner dorthin, begleitet von tollenden Kindern und kläffenden Hunden. Ortege sah finster, wie sein kleiner Bruder, mit nichts angetan außer einem grob zusammengenähten Gewand aus Birkenrinde, von Okes älteren Söhnen vor den Schamanen geführt wurde. Dann war auch Oke da. Die Menschen rundum wurden still. Der Schamane hob die Hände gen Himmel und flehte um den Segen der Götter, bevor er mit der Zeremonie begann.
„Ein Fremder steht vor mir“, begann er mit weittragender Stimme. „Ein Fremder, der ein Freund geworden ist. Ein Fremder, der mit uns Feuer, Wasser und Fleisch geteilt hat, dessen Mutter zur Gattin Okes, unseres Torks, wurde. Sage mir, Oke aus dem Clan der Steinschleuderer, ist es dein erklärter Wille, diesen Fremden in deine Familie und deinen Clan aufzunehmen, ihn zu deinen Söhnen zu zählen und zu deinen Erben?“
„Das will ich!“, tönte Okes tiefe Stimme über den Hügel. „Dieser Fremde ist kein Fremder mehr. Ich habe für ihn gejagt, und er hat für mich gejagt. Ich habe ihm Geschichten am Winterfeuer erzählt, und er hat mir seine Träume erzählt. Ich habe ihn gelehrt, wie er zu kämpfen hat, und er hat mir versprochen, dass er für mich kämpfen wird. Er ist kein Sohn von meinem Blut, aber ich will ihn zu einem Sohn meines Herzens machen.“
„So sei es.“ Der Schamane trat zu dem Holzstapel und verstreute etwas darauf. Dann ging er zu Okano.
„Fremder, der du ein Freund geworden bist am Herdfeuer Okes aus dem Clan der Steinschleuderer, der du für ihn gejagt und mit ihm Wasser, Feuer und Fleisch geteilt hast, bist du gewillt, auch für ihn zu kämpfen und gegebenenfalls für ihn zu sterben, wenn es der Wille der Götter ist? Wirst du, wenn er dich als seinen Herzsohn annimmt, ihn als deinen Herzvater annehmen?“
„Das will ich!“ Okanos Stimme war hell, jungenhaft, aber fest und bestimmt und über den ganzen Hügel zu vernehmen.
Der Schamane nahm ihm das Gewand aus Birkenrinde ab und legte es auf den Holzstapel. Dann entzündete er das Holz. „Der, der ein Fremder war, ist nicht mehr“, verkündete er. „Okes Sippe hat ab heute einen neuen Sohn!“
Unter dem Jubel aller brachten Okes älteste Frauen ein neues Gewand aus frischem, hellem, bunt bemaltem und reich besticktem Leder herbei und zogen es Okano an. Dann gab Oke ihm Dolch und Bogen, während die Trommeln begannen und die Methörner gefüllt wurden. Und vor dem prasselnden Feuer standen Oke und sein neuer jüngster Sohn, stolz und aufrecht, in der Gunst der Götter.
Ortege wandte sich ab und entfernte sich verstohlen. In seinem Herzen glühte die Eifersucht. Warum durfte Okano Okes Sohn werden, warum nicht er? Lebte er nicht schon länger an Okes Herdfeuer? Hatte Okes ihm nicht schon viel früher einen Bogen gegeben? Er ging schneller und schneller. Am Ende lief er. Lief, bis er nicht mehr konnte, und irgendwo im hohen Gras erschöpft zu Boden fiel.
Wenigstens war hier nichts mehr von dem Fest zu hören.
Die Sonne berührte fast den Horizont. Dann kletterte sie wieder in den Himmel. Sie stand hoch oben, als Ortege eine Berührung an seiner Schulter spürte. Er öffnete die Augen. Oke stand über ihm.
„Du bist nicht bei dem Fest.“
„Es ist nicht mein Fest.“
„Es ist das Fest deines Bruders.“
„Ist er noch mein Bruder?“ Ortege konnte nicht verhindern, dass Bitterkeit durch seine Stimme klang.
Oke setzte sich zu ihm „Er ist dein Bruder durch euer gemeinsames Blut. Und das ist etwas, was sich niemals ändern wird.“
„Aber er ist jetzt einer von euch. Und ich nicht.“
„Denkst du, dass ich dich nicht liebhabe?“
„Du hättest auch mich zu deinem Herzsohn machen können.“
„Deine Mutter wollte es nicht. Und ich achte deine Mutter zu sehr, um ihre Wünsche zu missachten.“
„Wegen dieser blöden Burg irgendwo in Karapak. Einer Burg, an die ich mich kaum erinnern kann, die mir nichts bedeutet.“
„Sie gab ihrem ersten Gatten ihr Ehrenwort, dass sie dafür sorgen würde, dass einer seiner Söhne sein Erbe antreten würde. Willst du, dass deine Mutter wortbrüchig wird, dass sie ihre Ehre verliert?“
„N–nein. Aber … hätte es nicht eine andere Möglichkeit gegeben? Warum muss ich es sein?“
„Du bist der Älteste. Die Verantwortung lastet auf dir. So ist das nun mal.“
Beide schwiegen jetzt.
Schließlich seufzte Oke. „Vielleicht sollte ich dir etwas sagen. Etwas, was du wohl noch nicht begriffen hast. Du magst nicht mein Blutsohn sein und auch nicht mein Herzsohn, aber du bist mein Herdfeuersohn, und du sollst wissen, dass du auch ohne Eid immer meinem Herzen nahestehen wirst. Ich habe keine Verpflichtungen aus Blut und Familie dir gegenüber, aber ich verspreche dir, dass ich dir genauso in Worten und mit Waffen zur Seite stehen und dich unterstützen werde, als seist du mein Blutsohn. Bedingungslos. Und koste es mein Leben.“
Ortege sah Okes Augen. Sie sprachen von Wahrheit und Liebe. Er rückte näher an den Tork heran, umarmte ihn und flüsterte: „Ich werde es nie vergessen. Und wenn ich dich auch nie so nennen darf, Oke, in meinem Herzen wirst du für mich immer ein Vater sein.“
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