Vio zog den Kopf ein. „Praktisch jeder hier in der Küche. Und ihre Hofdamen. Und natürlich so gut wie alle Diener im Sommerharem.“
„Und du bist sicher, was die Wirkung betrifft!“
„Absolut.“ Vio zögerte kurz, bevor er hinzusetzte: „Meine Schwester hat die gegessen, als sie bereits fünf Kinder hatte und keine mehr wollte.“
„Das ist Sabotage. Schlimmer, Hochverrat. Ein Angriff auf das Haus Mehme. Der König muss davon erfahren.“
Vio wünschte sich ein Mauseloch, in dem er unverzüglich verschwinden konnte. Der König … Es waren schon Leute aus weniger guten Gründen hingerichtet worden.
Inagoro hörte mit versteinertem Gesicht, was seine Mutter ihm berichtete. „Ein Kraut, das unfruchtbar macht“, sagte er dann. „Für immer? Oder ist der Effekt vorübergehend?“
„Vorübergehend“, versicherte Sirit ihm.
„Wissen wir, wer es war?“
Sirit lächelte dünn. „Noch nicht. Aber vermutlich bald. Nur fürchte ich, dass der Anstifter zu dieser Tat von außen kommt. Wir beide wissen sehr genau, wer Interesse daran hat, dass du keine weiteren Söhne bekommst.“
Inagoros Wangenmuskeln spannten sich. Instinktiv wich Sirit einen Schritt zurück. So hatte Tolioro ausgesehen, bevor er zuschlug.
Die Lieferung war aus dem Süden gekommen. Wie die Erste Gemahlin. Niemand hatte Verdacht geschöpft. Die Gattin des Königs ließ viele Gewürze aus ihrer alten Heimat kommen und pflegte Unmengen davon über ihr Essen zu geben.
Der königliche Geheimdienst grub allerdings ein interessantes Detail aus. Der Händler, der normalerweise direkt vom Grünwassersee aus seine Waren anlieferte, hatte bei seiner letzten Fuhre massiv Schwierigkeiten gehabt. Ein verendeter Ochse, zwei gebrochene Wagenräder, eine merkwürdige Häufung von Durchfallerkrankungen unter seinen Angestellten. Auf halbem Wege hatte er sich einen Lohnunternehmer anheuern müssen, um seine Waren noch pünktlich zum Palast zu schaffen. Und dieser Lohnunternehmer stammte den Papieren nach rein zufällig aus einer Stadt im äußersten Norden des Lehens von Herzog Komato.
Noch viel zufälliger hatte dieser Lohnunternehmer auf seinem Heimweg einen äußerst tragischen Unfall gehabt und sich den Hals gebrochen, als seine Ochsen aus unerfindlichen Gründen plötzlich durchgingen.
Es gab also keine Beweise.
Inagoro wusste dennoch, woran er war. Die Wachen vor dem Sommerharem wurden verdoppelt, alle eingehenden Lieferungen mehrfach überprüft, eine zusätzliche Vorkosterin für die erste Gemahlin bestimmt.
Trotzdem dachten alle zuerst an einen Giftanschlag, als die erste Gemahlin am dritten Morgen der Regenzeit über massive Übelkeit klagte. Bis zum Nachmittag ging es ihr allerdings schon wieder besser.
Und am nächsten Morgen war ihr wieder übel.
Fabriele war schwanger.
Endlich. Es hatte schon ungutes Geflüster gegeben in Palast und im Thronrat, Erinnerungen an Inagoros Vater, der es nicht geschafft hatte, mehr als einen einzigen Sohn zu zeugen. Ein Königshaus ohne Söhne war ein Haus, das nicht mehr lange Bestand haben konnte.
Ein Königshaus mit vielen Söhnen hatte andere Probleme. Inagoro dachte daran, was er über seinen Vater und dessen Brüder erfahren hatte. Die meisten davon waren nicht einmal alt genug geworden, um Laufen zu lernen. War sein ältester Sohn in Gefahr?
Aber da war immer noch Sirit. Inagoro war sich sicher, dass seine Mutter über ihren ersten Enkelsohn wachen würde wie eine Löwin.
Das Problem war nur, mit der Geburt eines Sohnes würde Fabriele Sirit von ihrer Position als Erste Frau im Sommerharem verdrängen. Wenn Fabriele es so wollte, würde Sirit in den Winterharem ziehen müssen.
Und von da aus konnte sie nicht mehr über ihren Enkel wachen.
Inagoro ballte die Fäuste. Soviel unnützer Ballast an Sorgen alleine in seiner Familie! Bei allen Winddämonen, er war der König, er sollte Besseres zu tun haben. Beispielsweise einen kleinen Eroberungsfeldzug. Aber wo? Im Norden gab es nichts zu erobern. Bis tief hinein nach Kirsitan waren die Berge inzwischen fast menschenleer. Mit Tolor hatte Karapak einen Friedensvertrag. Mit den Wüstenstämmen auch. Inagoro starrte finster ins Nichts. Es gab nur noch eine einzige Stelle, an der Karapak tatsächlich kämpfen konnte. Das Delta. Jene Sumpfinseln, auf denen sich die Piraten verschanzt hatten.
So ziemlich die schlechteste Stelle für einen Krieg, wenn man normalerweise mit Fußsoldaten und Kavallerie kämpfte.
Am Ende waren es die Gilden, die den letzten Anstoß gaben.
Berichte über Piraterie waren ohnehin in den letzten Jahren an der Tagesordnung gewesen. Mit einer Regentin, auf die niemand so recht hören mochte, einem jungen handlungsunfähigen König und einen alten, handlungsunwilligen Thronrat, hatten die Piraten sich fast unbehelligt wieder ausgebreitet und große Teile des Landes erneut besetzt, dort, wo das Delta an das Meer grenzte. Schiffe wie Dörfer mussten Schutzgeld zahlen, um überhaupt einigermaßen unbehelligt zu bleiben, und selbst das nützte nicht immer. Die Piraten holten sich Lebensmittel und Frauen aus den Dörfern und Geld und Gut von den Kaufleuten. Wer sich wehrte, starb.
Die Seidengilde wurde vorstellig. Der Thronrat schmetterte ihr Hilfeersuchen ab, unter Hinweis darauf, dass die Seidengilde genug verdiente, um selbst mehr Wachen zu bezahlen. Den Gewürzhändlern ging es nicht besser.
Dann sprach jemand vor, mit dem überhaupt kein Mitglied des Thronrates gerechnet hatte.
Ein vierschrötiger, stiernackiger Mann, der so überhaupt nicht zu den ziselierten Alabastersäulen und den goldgeschmückten Kerzenständern passen wollte, zwischen denen er einherging.
„Prakat von der Steinmetzgilde!” Die Stimme des Herolds dröhnte durch den Audienzsaal.
Der Mann baute sich vor Inagoro auf, zwar mit einer angemessen demütigen Verneigung, aber seine Gestalt war keine, die höfische Formen verinnerlicht hatte. Er strahlte Kraft aus und tatkräftige Energie.
„Ihr müsst etwas gegen die Piraten unternehmen, Majestät!”, dröhnte sein tiefer Bass durch den Raum.
„Ich muss?”, fragte Inagoro betont sanft.
Prakat zuckte zusammen, verneigte sich hastig noch einmal. „Meine Worte waren schlecht gewählt, Majestät. Ich meinte damit, es ist in Eurem ureigensten Interesse, dass den Piraten das Handwerk gelegt wird.”
„Erläutere mir das.”
Prakat räusperte sich, fuhr sich mit der Hand über den Bart und begann dann zu reden, langsam zuerst. Aber mit jedem Wort wurde er sicher, schneller – und lauter. „Ich vertrete die Steinmetzgilde. Wir sind diejenigen, die Häuser, Tempel und Paläste in Sawateenatari bauen. Wie Ihr wissen dürftet, Majestät, wird in dieser Stadt – und auch an Eurem Palast – unentwegt gebaut. Die Steinbrüche aber, aus denen unser Material stammt, sind sehr weit weg.
Steine aus den Drachenbergen können wir natürlich den Tsaomoogra herabschiffen. Bei den begehrten weißen und roten Steinen aus den Drachenschwanzbergen oder gar dem schwarzen Basalt aus den grauen Schluchten aber geht das nicht. Da sind wir auf den Land- oder Seeweg angewiesen. Und während der Regenzeit, so wie jetzt, können wir nur den Seeweg nutzen. Trotz des großartigen Straßenbauprogramms Eures verehrten Großvaters Kanatamehme sind immer noch weite Teile unseres Straßennetzes unbefestigt. Die Wagen mit den Steinladungen sind einfach zu schwer, sie bleiben in dem Morast stecken. Wir müssen also den Seeweg nutzen – oder wir müssen aufhören zu bauen.
Damit aber wären weder Ihr noch unsere sonstigen Kunden einverstanden.
Auf dem Seeweg allerdings fangen uns seit einigen Jahren regelmäßig die Piraten ab und verlangen Schutzzoll. Unsere Schiffe sind durch die Steine so sehr beladen, dass sie nur schwerfällig manövrieren und die Piraten mit ihnen leichtes Spiel haben. Anfangs waren die Schutzzölle moderat, aber in diesem Jahr sind sie derart hoch geworden, dass sie unseren ganzen Gewinn auffressen. Eine Gilde ohne Gewinn kann nicht existieren. Und, wie ich vorsichtig anmerken möchte, Majestät, eine Gilde ohne Gewinn kann auch keine Steuern zahlen.”
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