Oke drückte ihn kurz. Dann stand er auf. „Komm, Ortege. Das Fest ist noch lange nicht zu Ende. Ich erwarte, dass du genau das tust, was auch meine älteren Söhne getan haben. Du wirst dich für deinen Bruder und mit uns freuen und mit uns feiern und singen. Und du wirst ihm zeigen, dass er zwar Brüder gewonnen, aber keinen Bruder darüber verloren hat.“
Taephe erfuhr nie, was Oke mit Ortege besprochen hatte. Aber sie sah, dass ihr ältester Sohn seinen Bruder umarmte, ihm gratulierte, und sie sah, dass sein Lächeln echt war.
Einen Mond später gebar sie Oke eine Tochter. Sie fürchtete Enttäuschung, aber ihr Mann lachte nur. „Es können ja nicht immer nur Söhne sein. Ein kräftiges kleines Mädchen. Ich hoffe, sie wird wie ihre Mutter.“
Taephe nannte die Kleine Nitiri, nach den winzigen gelben kirsitanischen Bergblumen, die Wind und Eis und sengender Sonne trotzten und jeden Sommer an den steilsten Hängen der Drachenberge blühten.
*
Weit weg in den Bergen Kirsitans dachte in jenem Moment eine Frau an Taephe. Inana hatte seit Taephes Abreise nichts mehr von ihrer Freundin gehört. Die Händler waren ausgeblieben, die Nordleute hatten sich anderen Zielen zugewandt. Kein Wunder, in Kirsitan gab es nichts mehr zu handeln, und von Meelas hörte man erst recht nichts. Inana seufzte und sah zu ihrem Sohn. Zwei Monde nach Taephes Abreise war er zur Welt gekommen. Der Kleine hätte Taephe vermutlich gefallen.
Und Inana hätte eine Schwester an ihrer Seite gebrauchen können. Nicht einmal ihr Hornstachlerkind vorher hatte sie dermaßen erschöpft wie dieser Junge. Mako mochte erst zwei sein, aber er war groß und stark für sein Alter und kaum zu zähmen. Inana hatte manchmal den Eindruck, dass der Junge ihre Erziehungsversuche einfach auslachte.
Sie erhob sich, strauchelte und musste sich am nächsten Stützpfeiler des Hauses festhalten. Schwarze Wolken schienen vor ihren Augen zu tanzen. Irgendetwas stimmte da ganz gewaltig nicht. Sie war nicht krank, sie hatte weder Schmerzen noch Fieber. Und trotzdem war sie seit einiger Zeit praktisch ständig erschöpft und kaum noch fähig, ihre ganz normalen Arbeiten zu verrichten.
Es gab nur eine Stelle, die ihr Rat geben konnte. Inana suchte die Duka auf.
Kira saß schwatzend am Feuer ihres Sippenhauses und verlas zusammen mit drei älteren Frauen die Bohnen. Einwandfreie wanderten in die Vorratsgefäße, beschädigte kamen gleich in den Eintopf, der auf dem kleinen Feuer vor ihnen leise simmerte.
Inana setzte sich schweigend zu ihnen und wartete.
Zwei Handvoll Bohnen später wandte Kira sich an sie. „Ich habe dich während der letzten Monde selten gesehen. Du kommst kaum noch aus dem Haus. Und du bist dünner geworden und kraftlos. Was ist mit dir, Schwester?“
Inana öffnete ihre Hände dem Schein der Flammen. „Ich dachte, das könntest du mir sagen.“
Kira sah sie an, dann ihre Hände, dann die Flammen. „Du bist nicht die Einzige“, sagte sie schließlich leise. „Da sind andere, deren Leben genauso schwindet. Und ihr alle habt eines gemeinsam. Ihr habt zuvor Drachenbrut ausgetragen, und danach habe ihr ein menschliches Kind geboren.“
Inana wollte die Antwort, auch wenn sie sich davor fürchtete. „Was bedeutet das?“
„Das bedeutet, dass ihr sterben werdet, wenn eure Kinder bei euch bleiben. Das bedeutet, dass dein eigenes Kind dir das Leben stehlen wird. Die Flammen haben mich gewarnt. Das Drachenblut ist zu stark in euren Kindern. Ich habe versucht, so lange wie möglich zu warten. Es ist nicht unsere Art, Mütter von ihren Kindern zu trennen. Aber ich fürchte, uns wird keine andere Wahl bleiben.“
„Heißt das, ich muss meinen Sohn einer anderen Sippe geben?“ Das hieße, sie würde ihn nicht mehr jeden Tag sehen können. Würde sich nicht erfreuen können an jedem kleinen Fortschreiten seiner Entwicklung. Es würde schwer sein für sie.
„Das heißt, dein Sohn und alle anderen Kinder, die wie er sind, müssen Kirsitan verlassen.“
Inana sog erschrocken die Luft ein.
„Grau hat so etwas bereits angedeutet bei seinem letzten Besuch. Er sagte, die Drachenblütigen sind Zauberer und müssen als solche aufgezogen werden.“
„Aber … können wir das nicht hier machen? Notfalls in einem anderen Dorf?“
„In welchem denn? Über den Winter ist doch nur Ganen selbst bewohnt. Außerdem brauchen sie Erzieher, Lehrer, Vorbilder. Kirsitan hat keinen einzigen Zauberer. Wir können das einfach nicht.“
Inanas Herz schien zu stolpern. Mit gepresster Stimme fragte sie: „Wohin müssen unsere Kinder dann gehen?“
„Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Karapak oder Tolor. Nur in diesen beiden Ländern gibt es Zauberer. Und Karapak … Wir wissen, wie sehr die Karapakier uns mögen. Das Land kommt also nicht infrage. Es bleibt nur Tolor. Die beiden Zauberer dort würden unsere Kinder bei sich aufnehmen.“
„Wie lange?“ Inana konnte hören, wie dünn und verloren ihre Stimme klang.
„Für immer. Sie kehren niemals zurück.“
Jetzt flossen die Tränen.
Inana spürte, wie zwei der älteren Frauen an sie heranrückten und sie in die Arme nahmen.
Hätte sie aufgesehen, hätte sie den fast verzweifelten Blick ihrer Duka bemerkt.
Kira haderte mit den Flammen. Mussten sie ihr das sagen? Hätte es nicht schon gereicht, zu wissen, dass sie Kinder ihres eigenen Volkes wegschicken musste? Sie dankte den Göttern, dass Inana in diesem Moment nicht fähig war, weiter zu fragen. Wie hätte sie ihr erklären sollen, dass sie diese Kinder wissentlich in den Tod schickte?
Denn das hatten ihr die Flammengeister gesagt. Keines der Kinder würde Tolor überleben. Und trotzdem war es nötig, sie dorthin zu schicken. Das Überleben ihres ganzen Volkes hing davon ab. Die Zauberer im Süden waren das Zünglein an der Waage des Schicksals.
*
Als der Drachenherr nach seinem nächsten Besuch wieder fortflog, trug er fünf kleine Kinder in einem Korb mit sich.
So, wie in den nächsten Jahren auch, nur dass es immer weniger Kinder wurden, denn auch die Zahl der Frauen, die zuvor Drachenbrut austrug und danach noch ein menschliches Kind wagte, sank. Es tat zu weh, seine Kinder so rasch wieder zu verlieren.
Aber die Frauen fanden zu ihrer alten Kraft zurück, sobald die Kinder fortgeschafft waren.
Vio, seines Zeichens oberster Meister der Töpfe und Pfannen im Sommerharem, sortierte geistesabwesend seine Gewürze. Es waren mehr geworden als früher, die neue Erste Gemahlin des Königs hatte einige Kräuter aus ihrer Heimat mitgebracht, die sie in ihren Speisen wünschte. Bei einem der neuen Kräuterbüschel zögerte er kurz. War diese Pflanze nun als Zutat zu Fleisch oder zu Gemüse gedacht? Aber nein, jetzt fiel es ihm wieder ein. Dieses würzige, harte Blatt gehörte zu Fisch. Meeresfisch, wie die Erste Gemahlin betont hatte. Nun, dann konnte er das Kraut gleich ganz hinten in den Schrank hängen. Wenn man nicht gerade die Dienste eines Zauberers in Anspruch nahm, war es so gut wie unmöglich, Meeresfische in die Hauptstadt zu bekommen, die noch frisch genug waren, um sie zu essen.
Jetzt nur noch rasch die Töpfchen mit den Würzsamen überprüfen. Der Fenchel roch muffig. Vio warf ihn ins Herdfeuer und beauftragte einen Küchenjungen, unverzüglich zum Markt zu laufen und frischen zu holen. Beim achtzehnten Töpfchen hielt Vio erneut inne. Zirmetsamen. Noch so ein Fischgewürz. Allerdings rochen diese Zirmetsamen merkwürdig schwach. Er streute ein paar auf die weißgescheuerte Tischplatte. Seine Augen verengten sich. Das war kein Zirmet. Genauer gesagt, das war Zirmet, der mit einer ordentlichen Portion Möhrensamen gestreckt war. Vio war absolut sicher, dass die Königinmutter das interessant finden würde.
„Wer weiß alles, welche Gewürze die Erste Gemahlin meines Sohnes gerne und in größeren Mengen isst?“ Sirit besah die so unscheinbar und harmlos auf ihrer Hand liegenden Körner.
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