183
Da der EuGH die Normauslegung festlegt, kommt es für seine Urteile zu einer Besonderheit, die den Mitgliedstaaten nicht selten große Sorgen macht: Sie wirken nicht nur für die Zukunft, sondern auch zurück. Nur in extremen Ausnahmefällen hat der EuGH sich darauf eingelassen, die Wirkung einer Entscheidung auf die Zukunft zu beschränken.[195]
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So entsteht eine Bindungswirkung, die sich in ihrer Qualität von der Bindungswirkung der Urteile nationaler Obergerichte und insbesondere des BGH unterscheidet.[196] Was der EuGH entschieden hat, erlangt in gewisser Weise ähnliche Bedeutung wie das geschriebene Recht.[197] Allerdings ist es den Gerichten erlaubt, eine bereits vom EuGH entschiedene Frage erneut vorzulegen und auf eine Änderung der Rechtsprechung hinzuwirken.[198] Zwar kann und wird der EuGH in diesen Fällen oftmals durch Beschluss auf die vorangegangene Entscheidung verweisen.[199] Er darf seine Rechtsprechung aber auch jederzeit ändern. Sinnvoll und erfolgversprechend ist die erneute Vorlage z.B. dann, wenn die bisherige Rechtsauffassung des EuGH im zu entscheidenden Fall zu unbrauchbaren Ergebnissen führen würde.
[1]
Schon bei der Umsetzung muss auch der Grundsatz des „effet utile“ beachtet werden, Calliess / Ruffert/ Calliess/Kahl/Puttler , EUV/AEUV, Art. 4 EUV Rn. 55; näher dazu unten im Zusammenhang der Auslegung Rn. 111.
[2]
Nähere Angaben zu allen Richtlinien im Anhang I.
[3]
So EuGH Slg. 1997, 2649, 2672 (Kommission/Großbritannien).
[4]
Das folgt unmittelbar aus der richterlichen Unabhängigkeit; vgl. auch Koenig/Sander , EuZW 2000, 716, 720 ff. Dass der EuGH dennoch eine Staatshaftungspflicht annimmt, wenn Richter europarechtswidrig entscheiden, ändert daran nichts, da der Anspruch gegen den Staat und nicht gegen das Gericht besteht (vgl. zu diesem Anspruch unten Rn. 94); umfassend zur Problematik Röthel , Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 344 ff.
[5]
EuGH Slg. 2001, 3541 Rn. 17 ff. (Kommission/Niederlande); zuvor etwa EuGH Slg. 1991, 2607 Rn. 28 (Kommission/Deutschland); vgl. aber auch EuGH Slg. 2002, 4165 (Kommission/Schweden), wo klargestellt wird, dass der Richtlinienanhang nicht umgesetzt zu werden braucht; auch dazu Röthel , Normkonkretisierung im Privatrecht, 2004, S. 348 ff.
[6]
Kritisch zur zunächst unvollständigen Umsetzung der Klausel-RL Staudinger , WM 1999, 1546; Neu , ZEuP 1999, 123, 138 f. zu § 3 UWG.
[7]
Unter anderem kommt dies nur bei einer hinreichend konkreten Richtlinie in Betracht. Vgl. erstmals zur Direktwirkung EuGH Slg. 1974, 1337, 1348 (van Duyn); exakter EuGH Slg. 1986, 723, 749 (Marshall). Siehe zur unmittelbaren Wirkung auch BVerfGE 75, 223, 235 ff. Zusammenfassend: Scherzberg , Jura 1993, 225; Brechmann , Richtlinienkonforme Auslegung, 1994, S. 14 ff.; Calliess/Ruffert /Ruffert , EUV/AEUV, Art. 288 AEUV Rn. 47 ff.; Gebauer/Wiedmann/ Wiedmann , Zivilrecht unter europäischem Einfluss, Kap. 2 Rn. 18 ff.
[8]
So ausdrücklich EuGH Slg. 1986, 723, 749 (Marshall); EuGH Slg. 1994, 3325 (Faccini Dori); sowie nach der Einfügung des Verbraucherschutzes in Art. 129a EGV (jetzt Art. 169 AEUV) nochmals bestätigend EuGH Slg. 1996, 1281 Rn. 15, 18 ff. (Corte Inglés); EuGH Slg. 2007, 4473 Rn. 20 (Carp); vgl. zu den Grenzen der Privatbelastung durch unmittelbar wirkende Richtlinien Jarass/Beljin , EuR 2004, 714.
[9]
EuGH Slg. 2005, 9981 Rn. 67 ff. (Mangold).
[10]
Basedow , ZEuP 2008, 230; Thüsing , ZIP 2005, 2149 (der die Entscheidung letztlich dennoch ablehnt). Der Fall Mangold weist noch eine weitere Besonderheit auf. Es ging hier nämlich um eine Richtlinie, deren Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen war. Daher stellte sich dort auch die Frage der Vorwirkung von Richtlinien (dazu unten Rn. 133).
[11]
Nur nochmals EuGH NZA 2014, 193 LS 2 und 4 (AMS).
[12]
EuGH Slg. 2006, 2461 (Kommission/Frankreich) – 31.650 € pro Tag des (weiteren) Verzugs.
[13]
EuGH Slg. 1997, 2649, 2672 (Kommission/Großbritannien); vgl. aber auch EuGH Slg. 2002, 3887 (Kommission/Griechenland), wegen teilweise fehlerhafter Umsetzung der Produkthaftungs-RL; auch schon oben Rn. 86 f.
[14]
So EuGH Slg. 1996, 4845 (Dillenkofer); grundlegend bereits EuGH Slg. 1991, 5357 (Francovich).
[15]
Näher MünchKommBGB/ Tonner , § 651r Rn. 4 f.; Gorr , VW 2020, 13.
[16]
Stattdessen für eine richtlinienkonforme Reduktion des § 651r Abs. 3 BGB und eine unbegrenzte Einstandspflicht der Versicherung eintretend Staudinger/ Staudinger , BGB, § 651k Rn. 5 f.; die Bundesregierung prüft derzeit eine Neuregelung der Insolvenzsicherung im Reiserecht, BT-Drucks. 19/15995, 5.
[17]
Näher Dörr , WM 2010, 961; anwendend BGH NJW 2009, 2534; zu den Prüfungsvoraussetzungen Herdegen , Europarecht, § 10 Rn. 11.
[18]
EuGH Slg. 2003, 10329 Rn. 33 ff. (Köbler). Der 1. Leitsatz beginnt wie folgt: „Der Grundsatz, dass die Mitgliedstaaten zum Ersatz von Schäden verpflichtet sind, die einem Einzelnen durch ihnen zuzurechnende Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht entstehen, ist auch dann anwendbar, wenn der fragliche Verstoß in einer Entscheidung eines letztinstanzlichen Gerichts besteht, sofern die verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen diesem Verstoß und dem dem Einzelnen entstandenen Schaden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht.“
[19]
EuGH Slg. 2001, 9945 Rn. 47 (Heininger); BGH NJW 2004, 2744; in Hinsicht auf die Widerrufsfolgen auch BGHZ 179, 27 (Quelle II).
[20]
Schinkels , JZ 2011, 394, 398.
[21]
Schulze/Schulte-Nölke/ Dörner , Schuldrechtsreform vor dem Hintergrund des Gemeinschaftsrechts, 2001, S. 177, 183.
[22]
Burmeister/Staebe , EuR 2009, 444, meinen, dass durch diese Form der überschießenden Umsetzung auch bei Mindeststandard-Richtlinien die Pflicht zur richtlinienkonformen Umsetzung aus Art. 288 Abs. 3 AEUV verletzt sein könne.
[23]
Lutter , JZ 1992, 593, 604; Jarass , Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, S. 96; zur verfassungskonformen Auslegung vgl. nur BVerfGE 69, 1, 55. Die Unterschiede zur verfassungskonformen Auslegung betont Franzen , Privatrechtsangleichung, 1999, S. 327 f.
[24]
Mit dem inzwischen verbreiteten Ausdruck der „Inseln“ schon Rittner , JZ 1995, 849, 851; zum punktuellen Charakter, der oft kritisiert wird, auch Müller-Graff , NJW 1993, 13, 19; W.-H. Roth , FS Drobnig, 1998, S. 135, 136.
[25]
Dazu unten Rn. 635.
[26]
Neugestaltung der Rahmenbedingungen für die Verbraucher, COM(2018) 183.
[27]
Vorerst Franzen , Privatrechtsangleichung, 1999, S. 291 ff.; Buck , Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998.
[28]
Lorenz , NJW 2011, 2241, 2242; sehr kritisch etwa Schulze/ Hommelhoff , Auslegung europäischen Privatrechts, 1999, S. 29.
[29]
So auch Lutter , JZ 1992, 593, 598 f.; Hommelhoff meint ebenfalls trotz aller Kritik: „Auch zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts verwendet der EuGH Kriterien, die den bekannten Savignys entsprechen“, Schulze/ Hommelhoff , Auslegung europäischen Privatrechts, 1999, S. 29.
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