Karin Bojs
Meine europäische Familie
Warum wir alle miteinander verwandt sind
Aus dem Schwedischen von
Maike Barth und Inge Wehrmann
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel
„Min europeiska familj – De senaste 54000 åren“ bei
Albert Bonniers Förlag, Stockholm, Schweden.
Originalausgabe © 2015 Karin Bojs
Veröffentlicht durch Vermittlung der Kontext Agency, Schweden.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
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Der Konrad Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG.
© 2018 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der
WBG ermöglicht.
Satz: Mario Moths, Marl
Einbandabbildung: Vorfahren und Zeitgenossen des Homo Sapiens im Neanderthal Museum,
Mettmann & Neanderthal Museum
Einbandgestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier
Printed in Europe
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-534-27329-4
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-534-74645-3
eBook (epub): 978-3-534-74646-0
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Innentitel
Inhaltsverzeichnis
Informationen zum Buch
Informationen zur Autorin
Impressum
Die Trauerfeier
DIE JÄGER
Das Trollkind – Vor 54.000 Jahren
Neandertaler in Leipzig
Die Flötenspieler
Die Ersten in Europa
Die Mammuts in Brünn
Cro-Magnon
Der erste Hund
Doggerland
Das Ende der Eiszeit
Dunkle Haut, blaue Augen
Das Klima und der Wald
Bin ich Samin?
Wir bekommen Keramik
Die Bauern kommen
DIE BAUERN
Syrien
Mit dem Boot nach Zypern
Das erste Bier
Bauern segeln gen Westen
Die Häuser auf den Gräbern der Toten
Konflikte in Pilsen und Mainz
Aussaat und Sonnenaufgang
Bauern gehen in Schonen an Land
Ötzi
Falbygden
Jägergene und Bauerngene
DIE INDOEUROPÄER
Der erste Hengst
DNA-Stränge – Verbindungen nach Osten
Streitäxte
Glockenbecher-Kultur, Kelten und Stonehenge
Die Himmelsscheibe in Halle
Felsritzungen
Eisen und Pest
Bin ich Wikingerin?
Die Mütter
Das Erbe von Hitler und Stalin
Der Baum und die Quelle
DNA – Fragen und Antworten
Dank
Quellen, Literaturhinweise und Reisetipps
WÄHREND ICH AN DIESEM BUCH ARBEITETE,starb meine Mutter, Anita Bojs. Viele Freunde und Bekannte kamen zur Trauerfeier – weitaus mehr, als ich zu hoffen gewagt hätte. Die Verwandtschaft bestand jedoch nur aus einer kleinen Schar, wir hatten alle auf der vordersten Bank Platz: mein Bruder und ich mit unseren Partnern sowie drei feingemachte Enkelkinder.
Es war Frühsommer und im Park vor der Vasakirche in Göteborg blühte der lila Flieder. Gemeinsam sangen wir den Psalm „Den blomstertid nu kommer“ und danach „Härlig är jorden“. Das hatte ich wegen einiger Zeilen ausgewählt, die ich besonders tröstlich finde: „Zeitalter kommen, Zeitalter gehen, Geschlecht folgt auf Geschlecht“.
Bei der nachfolgenden Gedenkfeier hielt ich eine Rede. Dabei wandte ich mich vor allem an die Enkelkinder. Ich wünschte mir, dass sie stolz auf ihre Großmutter und auf ihre Herkunft sein sollten, trotz der Umstände.
Die Großmutter, die sie gekannt hatten, war gealtert und vom Leben gezeichnet gewesen. Ihre viel versprechende Karriere war bereits mit fünfzig zu Ende gegangen. Schon damals blickte sie auf eine lange Geschichte gravierender Probleme zurück: Krankheit, Scheidung, Konflikte, Missbrauch …
Darum erzählte ich ihren Enkelkindern und den anderen Gästen der Gedenkfeier ein wenig aus der ersten Lebenshälfte meiner Mutter. Von der Einserstudentin, die am Karolinska Institut Medizin studieren durfte, obwohl sie eine Frau war und aus einfachen Verhältnissen stammte. Von ihrem Zuhause über der Grundschule in der Arbeitersiedlung, wo meine Großmutter Lehrerin war. Meine Mutter kam aus einem armen Elternhaus, das dafür jedoch umso reicher war an Gemeinschaft, Musik, Kunst, Literatur und Wissensdurst.
Ich zitierte aus einem Tagebuch, das ich bei ihren Sachen gefunden hatte. „Streng geheim“ stand in kindlicher Schrift auf dem Umschlag. Darin erzählte sie von den Sommerferien bei ihrer Großmutter – meiner Urgroßmutter Karolina Turesson – in Värmland, nur vierzig Kilometer von der norwegischen Grenze entfernt. Damals tobte der Zweite Weltkrieg, doch aus heutiger Sicht wirkt die Schilderung der Spiele mit den Cousinen auf dem Steg am glitzernden See Värmeln trotzdem heiter und friedvoll.
Ich habe weder meine Großmutter noch meine Urgroßmutter kennengelernt. Wegen der vielen Probleme in unserer zerrütteten Familie habe ich überhaupt nur selten irgendwelche Verwandten getroffen.
Vielleicht habe ich deshalb so viel darüber nachgegrübelt, wer all diese Menschen waren und woher sie kamen. Schon als ich zehn war, wollte ich mehr darüber wissen.
Meinen Großeltern väterlicherseits, Hilda und Eric, bin ich immerhin ein paar Mal begegnet. Die Besuche bei ihnen gehören zu meinen schönsten Erinnerungen. In ihrem Haus in Kalmar roch es so gut. Überall hingen Gemälde und mein Großvater hatte eigenhändig Bilder auf Türen, Wände und Möbel gemalt. Beide erzählten immer gerne von ihrer eigenen Kindheit, aber selten einmal von Verwandten, die früher gelebt hatten.
Jetzt, als Erwachsene, kann ich bei der Suche nach der Herkunft von Berta, Hilda und Eric auf die Unterstützung findiger Wissenschaftler zurückgreifen. Als Jugendliche kam mir Ahnenforschung immer ein bisschen albern vor. Doch heute weiß ich sie sehr viel besser zu schätzen. Mir ist klar geworden, dass das Interesse für unsere Vorfahren ein wichtiger Bestandteil vieler Kulturen der Welt ist. In zahlreichen schriftlosen Kulturen sind die Menschen in der Lage, ihre Abstammung über mindestens zehn Generationen auswendig aufzusagen. Ungefähr den gleichen Zeitraum überblicken erfolgreiche Familienforscher in Schweden. Auch die Bibel zeichnet lange Abstammungslinien nach, deren älteste vor über zweitausend Jahren aufgeschrieben wurden und schon lange davor mündlich tradiert worden waren.
Seit biblischer Zeit haben sich die Methoden der Ahnenforschung weiterentwickelt. Gerade jetzt erleben wir auf diesem Gebiet eine technische Revolution, einen regelrechten Quantensprung. Vor fünfzig Jahren begannen einige Wissenschaftspioniere mit dem Vergleich von Blutgruppen und einzelnen genetischen Markern, um Verwandtschaftsverhältnissen und historischen Völkerwanderungen auf die Spur zu kommen. Das DNA-Molekül war erst wenige Jahre zuvor entdeckt worden und nur eine kleine Gruppe von Forschern verfügte über das entsprechende Wissen. Erst 1995 gelang die Untersuchung der vollständigen DNA eines winzig kleinen Bakteriums. Seitdem ist die Entwicklung in schwindelerregendem Tempo vorangeschritten. Tatsächlich spielen sich im Bereich der Biotechnologie dramatischere Veränderungen ab als in der Datentechnologie, auch wenn die Verbesserungen von Computer, Telefon und Internet im Alltag sichtbarer sind. In der Datentechnologie spricht man vom „Mooreschen Gesetz“, nach dem sich die Leistung der Prozessoren jedes zweite Jahr verdoppelt. Die Kapazität zur Decodierung einer DNA-Sequenz wächst jedoch sehr viel schneller.
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