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Die Entscheidungen des EuGH sind zutreffend. Im Folgenden sei aber noch begründet, warum der EuGH Vertragsklauseln in aller Regel nicht kontrollieren darf, sondern die eigentliche Kontrolle durch das nationale Gericht erfolgen muss. Dieser Grund lässt sich nicht in allgemeinen Regeln (wie dem Subsidiaritätsprinzip) finden. Es muss vielmehr auf die konkrete Richtlinieselbst geschaut werden, um zu erkennen, wie tief die Auslegungskompetenz des EuGH für die bestimmte Generalklausel reicht.[166] Bei der Klausel-RL ist ein wichtiger Teil des Kontrollmaßstabs die Frage, ob die Klausel in treuwidriger Weise vom geschriebenen Recht abweicht. Es geht dann also gar nicht um einen feststehenden, vom Gesetz losgelösten Maßstab von Treu und Glauben, sondern es muss beurteilt werden, was Inhalt und Leitbild des nationalen Gesetzesist, und wie erheblich die Klausel von diesem abweicht.[167] In § 307 Abs. 2 BGB ist sogar der Versuch unternommen worden, diese Relation ausdrücklich zu regeln. In der Richtlinie fehlt ein konkreter Hinweis auf dieses Abhängigkeitsverhältnis. Immerhin wird allerdings darauf hingewiesen, dass eine Klausel niemals treuwidrig sein kann, wenn sie gar nicht vom geschriebenen Recht abweicht. Aber auch darüber hinausgehend ist klar, dass die Treuwidrigkeit einer von einer Partei gestellten Vertragsbedingung erst bei einer signifikanten Abweichung vom geschriebenen Recht anzunehmen ist. Die Klausel muss zu Lasten des Verbrauchers so deutlich vom geschriebenen Recht abweichen, dass diese Abweichung treuwidrig bzw. missbräuchlich erscheint. Es kommt somit stets auf einen Vergleich der Klausel mit dem sonst geltenden Rechtan. Und das ist das nationale Zivilrecht.
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Zu Unrecht wird nun oft gefragt, ob der EuGH einen solchen Vergleich mit dem nationalen Recht leisten „könne“. Denn um das Können geht es nicht. Der EuGH darf diesen Vergleich überhaupt nicht vornehmen. Dieser ist nämlich nicht mehr eine Auslegung der Richtlinie, sondern es muss nationales Recht ausgelegt werden.[168] Es kommt ja darauf an, welches die wesentlichen Gedanken der nationalen Rechtsnorm sind, von der abgewichen wird. Wie gezeigt darf der Gerichtshof nach Art. 267 AEUV aber nur über die Auslegung von EU-Recht entscheiden (dazu oben Rn. 147).
ee) Verbleibende Fälle notwendiger Vorlagen
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Damit bleiben für die Vorlage zwei Komplexe übrig. Zum einen sind dies die sehr allgemeinen Fragen, die sich auf das Verständnis der Generalklausel selbst beziehen: Was enthält sie für Grundgedanken? Letztlich kann man mit gewisser Vorsicht sagen, dass sich hier ein europäischer Grundsatz von Treu und Glaubenniederschlägt (näher dazu unten Rn. 300). Für die Klausel-RL könnte beispielsweise gefragt werden, ob die Klauseln anhand des Prinzips der legitimen Erwartungen des Verbrauchers beurteilt werden müssen (inhaltlich dazu unten Rn. 284).
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Zum anderen sind es die Fälle, in denen die Klausel nicht (nur) von nationalem, sondern gerade von EU-Recht – also insbesondere von einer Richtlinie – abweicht. Denn es ist Aufgabe des EuGH, zu beurteilen, ob diese Abweichung vom EU-Rechtmissbräuchlich ist. Der EuGH legt dann aber nicht die Generalklauselaus, sondern bestimmt die wesentlichen Grundgedanken der Normen, von denen durch die AGB abgewichen wird. Das allerdings wird vorerst selten vorkommen, da der ganz überwiegende Teil des EU-Privatrechts zwingendes Recht ist und daher durch AGB ohnehin nicht abbedungen werden kann. Ein denkbares Beispiel ist aber die in Art. 7 Abs. 1 Zahlungsverzugs-RL vorgesehene Inhaltskontrolle. Hier ist der Vergleich der privaten Vereinbarung mit den dispositiven Regelungen der Zahlungsverzugs-RL sogar ausdrücklich vorgesehen (dazu auch noch unten Rn. 425).
6. Zusammenfassung
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Eine Vorlage an den EuGH ist zwingend vorgeschrieben, wenn das nationale Gericht Zweifel hat, ob die von ihm favorisierte Auslegung des nationalen Rechts im Widerspruch zum Inhalt einer Richtliniesteht.
Entbehrlich ist die Vorlage jedoch oftmals dann, wenn die Abweichung allenfalls dazu führen könnte, dass das von der Richtlinie vorgegebene Schutzniveau erhöht wird. Viele privatrechtliche Richtlinien enthalten nämlich weiterhin den Mindeststandardgrundsatz(dazu Rn. 159).
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Nutzlos ist die Vorlage übrigens auch dann, wenn eine Auslegung des nationalen Rechts im Sinne der Richtlinie ausgeschlossen ist, weil das nationale Recht eindeutige Vorgaben enthält und eine Auslegung im Sinne der Richtlinie ohnehin nicht möglich wäre. Dann enthält das nationale Recht einen Umsetzungsfehler. Dennoch muss der Rechtsstreit zunächst auf der Basis des nationalen Rechts entschieden werden (also z.B. gegen den klagenden Verbraucher). Aus der Verletzung der Umsetzungspflicht kann die betroffene Partei dann – wenn die Voraussetzungen erfüllt sind – einen Staatshaftungsanspruch ableiten (dazu oben Rn. 94).
Mit der Annahme, dass eine richtlinienkonforme Auslegung nicht möglich sei, muss man allerdings sehr zurückhaltendsein. Das zeigte sich besonders schön in der Vorlage des BGH im Quelle-Fall. Der BGH erklärte ausdrücklich, er sehe sich an einer richtlinienkonformen Auslegung gehindert, falls der EuGH entscheide, die Richtlinie sehe einen Nutzungsersatz durch den Verbraucher nicht vor (zum Fall oben Rn. 123).[169] Dass er dennoch vorlegte, war in sich widersprüchlich.[170]
Nachdem das Urteil ergangen war und der EuGH den Nutzungsersatz verneint hatte, fand der BGH dann allerdings doch einen Weg, das nationale Recht richtlinienkonform fortzubilden. Wie oben gezeigt, kann eine richtlinienkonforme Rechtsfortbildung nämlich sehr weit gehen ( Rn. 126 ff.).
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Auch bei Generalklauseln ist der EuGH grundsätzlich zur Ausfüllung zuständig. Zu beachten ist aber, dass es sich bei den meisten Streitfragen hier gar nicht um die eigentliche Ausfüllung der Generalklausel handelt, sondern dass es um die Anwendung der Generalklausel auf das nationale Rechtgeht. Der EuGH vertritt sogar die Auffassung, dass die Entscheidung darüber, ob die Generalklausel im konkreten Fall eingreift, stets Rechts anwendung sei. Zugleich hat er aber ausgesprochen, dass es Fälle gebe, in denen die Generalklausel nur eine ganz bestimmte Entscheidung zulasse.
§ 4 Umsetzung, Anwendung und Auslegung von EU-Privatrecht› D. Die Vorlage an den EuGH › IV. Sonderfall: Die Vorlage an den EuGH bei überschießender Umsetzung
IV. Sonderfall: Die Vorlage an den EuGH bei überschießender Umsetzung
1. Grundsätzliche Zulässigkeit der Vorlage bei überschießender Umsetzung
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Oben ( Rn. 131 ff.) wurde bereits dargestellt, dass das nationale Recht auch dann meist richtlinienkonform ausgelegt werden muss, wenn es sich um überschießendumgesetztes Recht handelt. Dürfen die nationalen Gerichte in diesen Fällen auch eine Vorlage an den EuGH vornehmen? Diese Frage ist klar zu bejahen. Tatsächlich sind solche Vorlagen sogar häufig. In der Regel werden sie gar nicht als Besonderheiten wahrgenommen. So hätte zum Beispiel im bekannten Fall Berliner Kindl (dazu näher Rn. 435) die alte Verbraucherkredit-RL ohnehin keine Anwendung gefunden, da sie nur Kredite bis zu einer Höhe von 20.000 ECU erfasste, es in dem Fall aber um 90.000 DM ging.[171]
Vorlagen zu Fällen im überschießenden Umsetzungsbereich sind sinnvoll. Es ist eine Vereinfachung, eine zu einer Richtlinie auftretende Auslegungsfrage sogleich dem EuGH vorlegen zu können, auch wenn der Fall eigentlich nicht von der Richtlinie erfasst würde.[172] Ansonsten müssten die nationalen Gerichte zunächst selbst eine Lösung finden, die dann unter Umständen der widerspräche, die der EuGH in einer späteren Entscheidung zu einem von der Richtlinie erfassten Fall bevorzugen würde.[173] Die einheitliche Behandlung der unterschiedlichen Sachverhalte, die der nationale Gesetzgeber eigentlich angestrebt hat, würde so verfehlt.
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