2. Keine Vorlagepflicht bei fehlender Entscheidungserheblichkeit
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Eine erste Begrenzung der Vorlagenotwendigkeit ergibt sich daraus, dass Auslegungsfragen nur dann vorzulegen sind, wenn sie für den Fall entscheidungsrelevant sind.[137]
Der EuGH nimmt eine Frage nur dann zur Vorabentscheidung an, wenn sie nicht rein hypothetisch, sondern tatsächlich entscheidungserheblichist.[138] So hat er unter anderem ausgesprochen, dass er Fragen nicht mehr beantwortet, wenn durch den Verlauf des Verfahrens die Klärung der Rechtsfrage unerheblich wird.[139] Dabei überlässt es der EuGH allerdings weitgehend den nationalen Gerichten, zu entscheiden, ob die Vorlage für die Entscheidung des Rechtsstreits von Bedeutung ist und lehnt daher Vorlagen nur dann ab, wenn offensichtlich kein Zusammenhang zwischen dem zu entscheidenden Rechtsstreit und der Vorlagefrage besteht.[140] Das wird in der Regel erst bejaht, wenn das nationale Gericht selbst zu erkennen gibt, dass die Vorlagefrage nicht oder nicht mehr entscheidungserheblich ist.[141]
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Diese Haltung des EuGH wird kontrovers diskutiert. Teilweise wird eine Kontrolle der Erheblichkeit durch den EuGHverlangt. Dabei muss allerdings bedacht werden, dass der EuGH ohnehin nur in beschränktem Maße die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage für ein komplexes, nach nationalem Sach- und Verfahrensrecht abzuwickelndes Verfahren beurteilen könnte.[142] Auf der anderen Seite kann es sich gelegentlich anbieten, im Interesse eines einheitlichen Verständnisses des nationalen Rechtsoder im Interesse einer baldigen Klärung wesentlicher Fragen zu RichtlinienVorlagen auch dann „für erforderlich“ zu halten, wenn die Auslegung der Richtlinie nicht unbedingt entscheidungserheblich für den Rechtsstreit ist.[143]
3. Keine Vorlagepflicht bei Offensichtlichkeit des Auslegungsergebnisses
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Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH braucht eine Vorlage nicht zu erfolgen, wenn der EuGH bereits eine Entscheidung zur betreffenden Frage gefällt hat oder die Antwort offensichtlich ist. Der EuGH benutzt die Formel, dass die Antwort „derart offenkundig“ sein muss, „dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt“ (C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung; man spricht auch von „Acte-clair-Rechtsprechung“).[144]
Trotz der Klarheit dieser Formel sind Meinungsverschiedenheiten über ihre Bedeutung aufgetreten.[145] Insbesondere der BGH hat die C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung gerne als Basis einer Argumentation genutzt, durch die eine an sich erforderliche Vorlage vermieden werden sollte.[146] Jedoch kann Offenkundigkeit keineswegs schon dann angenommen werden, wenn bei Anwendung nationaler Gedankengänge die Auslegung zweifelsfrei erscheint. Auch die Auslegung nur der deutschen Textfassung einer Richtlinie reicht nicht aus.[147] Wörtlich erklärt der EuGH in C.I.L.F.I.T.: „Das innerstaatliche Gericht darf jedoch nur dann davon ausgehen, dass ein solcher Fall vorliegt, wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde.“
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Es ist daher missverständlich, wenn vorgeschlagen wird, eine Vorlage in einem Fall, in dem die (EU-rechtliche) Vorschrift nach nationaler Sichtweise klar, nach EU-rechtsbezogener Sichtweise aber zweifelhaft erscheint, nur dann zu tätigen, wenn bereits eine den Zweifeln Nahrung gebende, von der Ansicht des nationalen Gerichts abweichende Entscheidung des EuGH vorliegt.[148] Unsinnig wäre es aber auf der anderen Seite, ein Gericht, welches bei Berücksichtigung der deutschen Fassung einer Richtlinie und Anwendung des diese umsetzenden nationalen Rechts keine Zweifel daran hat, wie ein Fall zu entscheiden ist, dazu zu zwingen, nunmehr auch die Sichtweise zu untersuchen, die sich für andere europäische Gerichte, vielleicht französische, spanische, polnische oder griechische ergeben könnte. Eigene Zweifel des nationalen Gerichts sind also entscheidend.Nötig ist die Vorlage aber bei auch nur geringem Zweifel – und dazu gehören eben auch schon die Fälle, in denen man denkt, irgendjemand anders könne vielleicht ernstliche Zweifel haben.[149] Die nationalen Gerichte sollten sich stets bewusst sein, dass sie die richtlinienkonforme ebenso wie die rechtsvergleichende Sichtweise nur unzureichend beherrschen (können). Das europäische Privatrecht ist in seiner ganzen Struktur, seiner Zielrichtung und seinen Prinzipien so anders als das deutsche Privatrecht, dass nicht in Parallelen gedacht werden kann.
4. Mindestharmonisierung, Vollharmonisierung und Vorlagepflicht
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Eine Begrenzung der Vorlagepflicht, die eher inhaltlicher Art ist, folgt aus der Geltung des Mindeststandardgrundsatzes. Wenn das nationale Gericht lediglich Zweifel hat, ob es mit seiner Entscheidung über den Standard der Richtlinie hinausgehen könnte, so besteht eine Vorlagepflicht nicht, soweit die Mitgliedstaaten einen über die Richtlinie hinausgehenden Schutz vorsehen dürfen (siehe dazu oben Rn. 21 f.).
Das Gericht darf aber auch im Fall einer Mindestharmonisierung stets eine Vorlage an den EuGH vornehmen, wenn es erfahren möchte, wie weit genau die Vorgaben der Richtlinie gehen. Die typische Vorlage gründet auch hier darauf, dass das Gericht das nationale Recht richtlinienkonform, also genau im Sinne der Richtlinie auslegen möchte, sich über die Bedeutung der Richtlinie jedoch nicht im Klaren ist.
Für Vollharmonisierungsrichtlinienbesteht eine wichtige Auslegungsfrage darin, welche Einzelfragen der Vollharmonisierung unterfallen und wie weit bestimmte Bereichsausnahmen reichen. Denn die Mitgliedstaaten haben oft ergänzende Normen erlassen oder beibehalten, die den Schutz der Richtlinie erweitern. Deren Vereinbarkeit mit der Richtlinie hängt jeweils davon ab, ob diese Regelungen außerhalb des vollharmonisierten Bereichs liegen.[150] Denn innerhalb des vollharmonisierten Bereichs sind Abweichungen nicht zulässig (mit Beispielen Rn. 228, Rn. 355, Rn. 468).
5. Sonderfall: Die Generalklausel in der Richtlinie
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Literaturhinweis:
Riesenhuber/ Röthel , Europäische Methodenlehre, § 11; Pfeiffer , Europäisch-autonome Auslegung der Klauselrichtlinie am Beispiel der Hauptleistungsklauseln, NJW 2014, 3069.
Beispiel 8
– nach EuGH Slg. 2004, 3403 (Freiburger Kommunalbauten): Die Eheleute E haben mit dem Bauträger B einen Vertrag über die Errichtung eines Einfamilienhauses geschlossen. Der Vertrag enthält die Bestimmung, dass E den Preis unabhängig vom Baufortschritt bezahlen müssen. Im Gegenzug stellt B ihnen die Bürgschaft eines Kreditinstituts, welche die Geldansprüche sichert, die ihnen wegen mangelhafter oder unterlassener Erfüllung des Vertrags erwachsen können. Diese Klausel kehrt die in § 641 BGB vorgesehene Reihenfolge der Erbringung der Leistungen um. E sehen darin eine Verletzung des Grundsatzes der „Zug-um-Zug“-Erfüllung und fühlen sich als Verbraucher in ihrer „Waffengleichheit“ beeinträchtigt. B hingegen meint, dass die von ihm gestellte Bürgschaft die Nachteile aus der Kaufpreiszahlung vor Vertragserfüllung kompensiere. Zudem könne er den Kaufpreis herabsetzen, weil er für die Baufinanzierung kein Darlehen in Anspruch nehmen müsse. Der vorlegende BGH stellt dem EuGH nun die Frage, ob diese Bauträgervertragsklausel als missbräuchlich im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Klausel-RL anzusehen ist.
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Die Problematik der Vorlage an den EuGH stellt sich besonders dringlich, wenn in Richtlinien Generalklauseln oder auch unbestimmte Rechtsbegriffeenthalten sind. Denn eine (neue!) Generalklausel kann ohne Auslegung – genauer wird oft von Ausfüllung oder Konkretisierung gesprochen – überhaupt nicht angewendetwerden. Bei den unbestimmten Rechtsbegriffen ist es ähnlich. Die Frage, in welchen Fällen die Vorlage zwingend ist, stellt sich bei Generalklauseln und unbestimmten Rechtsbegriffen also in zugespitzter Weise.
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