4. Richtlinienkonforme Auslegung bei überschießender Umsetzung
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Wenn über die Auslegung von überschießend umgesetztem Recht gesprochen wird, müssen die zwei oben ( Rn. 99 f.) beschriebenen Arten der überschießenden Umsetzung auseinandergehalten werden. Nimmt der nationale Gesetzgeber neue, über die Richtlinie hinausgehende Elementein das umsetzende Gesetz auf, so ist eine richtlinienkonforme Auslegung in Bezug auf diese neuen Elemente nicht möglich. Denn die Richtlinie enthält die in Frage stehenden Elemente gar nicht.
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Anders ist es in dem „Normalfall“ der überschießenden Umsetzung, also in den Fällen, in denen der nationale Gesetzgeber den Anwendungsbereichder Richtlinie erweitert. Typisches Beispiel ist die Umsetzung der Gleichbehandlungs-Richtlinien. In § 19 AGGwurde der Geltungsbereich zusätzlich auf Religion, Behinderung, Alter und sexuelle Identität erweitert.
Nach ganz herrschender Ansicht ist es in der Regel sinnvoll, solche Normen auch im überschießenden Bereich richtlinienkonform auszulegen.[94] Eine solche richtlinienkonforme Auslegung im überschießenden Bereich ist aber nicht zwingend geboten. Weder im EU-Recht noch im nationalen Recht gibt es eine Regel, die diese vorschreiben würde. Dafür spricht aber, dass eine gespaltene Auslegung ein und derselben Norm stets bedenklich ist. Bei der überschießenden Umsetzung kommt noch ein Gedanke hinzu: Der Gesetzgeber hat ja einen Grund für die überschießende Umsetzung. Sein Wille ist es, dass bestimmte, von der Richtlinie nicht erfasste Sachverhalte rechtlich ebenso geregelt sein sollen, wie die von der Richtlinie erfassten Sachverhalte.[95] Es wird also in aller Regel dem Willen des nationalen Gesetzgebers entsprechen, dass auch die Auslegung der Norm insgesamt einheitlich erfolgt.
5. Zeitlicher Beginn der richtlinienkonformen Auslegung
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Nach herrschender und überzeugender Ansicht dürfen nationale Vorschriften schon vor Ablauf der Umsetzungsfristrichtlinienkonform ausgelegt werden.[96] Eine EU-rechtliche Verpflichtung dazu besteht in aller Regel nicht.[97] Es handelt sich vielmehr um eine aus dem nationalen Recht abgeleitete Zweckmäßigkeitserwägung: Steht die Umsetzung einer Richtlinie bevor, so wäre es insbesondere bei neuen Rechtsfragen sinnlos, zunächst noch eine die Richtlinie ignorierende Lösung anzuwenden. Zu Recht ist allerdings aufgezeigt worden, dass dies in extremen Fällen anders sein kann, weil die Nichtbeachtung der Richtlinie eine spätere wirksame Umsetzung gerade unmöglich zu machen droht.[98] Das kann allerdings durch die Auslegung von nationalem Recht, um die es hier geht, nur sehr selten geschehen. Typischer ist der Fall, dass der nationale Gesetzgeber vor Ablauf der Umsetzungsfrist (vorübergehend) ein Gesetz erlässt, welches den Richtlinienzweck gerade unterläuft. In beiden Fällen spricht man von einem „Frustrationsverbot“. Die bekannteste Konstellation betrifft Fälle, in denen nationale Normen über die Zulässigkeit einer Befristung von Arbeitsverträgen weitherzig ausgelegt werden, kurz bevor eine Richtlinie solche Befristungen gänzlich verbietet.[99]
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Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung ist Teil des Gebots zur effektiven Umsetzung, welches sich aus dem Gebot der Loyalität und dem Vorrang des EU-Rechts ergibt.
Sie ist – in ähnlicher Weise wie auch die verfassungskonforme Auslegung – vorzunehmen, soweit es die auszulegende Norm nur zulässt.[100] Ihre Grenzen findet die richtlinienkonforme Auslegung (einschließlich der Rechtsfortbildung) erst, wo der klare Wortlaut der Norm ein Verständnis im Sinne der Richtlinie nicht mehr zulässt.[101]
§ 4 Umsetzung, Anwendung und Auslegung von EU-Privatrecht› C. Die Auslegung von nationalem Recht mit EU-rechtlichem Hintergrund › V. Weitere Formen „europäischer“ Auslegung des nationalen Rechts
V. Weitere Formen „europäischer“ Auslegung des nationalen Rechts
1. Harmonisierende Auslegung
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Neben die soeben vorgestellte „richtlinienkonforme Auslegung“ können noch andere, allgemeinere und weitergehende Formen der europäischen Auslegung des nationalen Rechts treten. Insbesondere wird von der „harmonisierenden“ Auslegung gesprochen.[102] Bei der harmonisierenden Auslegung geht es nicht um die zwingend vorgeschriebene Berücksichtigung von EU-Recht, sondern um ein rechtsvergleichendes, rechtliche Gegensätze zwischen den Rechtsordnungen überwindendes Verständnis des nationalen Rechts. Mit hierher gerechnet werden kann auch das Stichwort der Rechtsvereinheitlichung durch Auslegung .[103] Beides erscheint ebenso lobenswert wie utopisch, jedenfalls soweit der Wunsch nach europäischer Auslegung an die Praxis gerichtet ist.[104] Zwar ist es stets gut, wenn in der Praxis – und sei es aus einer Zufallskenntnis heraus – bei einer Zweifelsfrage der Blick auch auf das ausländische Recht gerichtet wird. Ernsthaft rechtsvergleichende Arbeit ist jedoch dermaßen aufwändig und fehlerträchtig, dass sie die Rechtspraxis allenfalls verunsichern kann. Bestehen allerdings bereits solide rechtsvergleichende Erkenntnisse durch wissenschaftliche Vorarbeit, so ist kein Grund ersichtlich, die Praxis nicht darauf zurückgreifen zu lassen. Dabei gibt es aber eine wichtige Grenze: Das geschriebene nationale Recht muss die rechtsvergleichende Auslegung tragen.
2. Historische Rechtsvergleichung
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Sehr weit entwickelt hat sich in den letzten Jahrzehnten die Schule der historischen Rechtsvergleichung.[105] Durch die Besinnung auf das Ius commune oder gar die ursprünglichen Grundsätze des römischen Rechts sollen die gemeinsamen Wurzeln des Rechtswieder entdeckt und gestärkt werden. Der Rückgriff auf Grundsätze des gemeineuropäischen Privatrechts wird teils sogar als Lückenfüller[106] für das geltende Recht vorgeschlagen. Insbesondere aber wird die historische Rechtsvergleichung als idealer Weg zur Wiedererreichung des einheitlichen Privatrechts (Reeuropäisierung) verstanden.[107]
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Die historische Rechtsvergleichung ist von großem Wert für die Aufdeckung und das Nachvollziehen von Unterschieden und Gemeinsamkeiten in den europäischen Privatrechtsordnungen. Freilich darf nicht übersehen werden, dass hier zumeist nicht an eine unmittelbare Rechtsanwendunggedacht wird.[108] Dennoch ist die Suche nach gemeineuropäischen Rechtsgrundsätzen, insbesondere nach solchen des römischen Rechts, durchaus auch auf deren Anwendung in der gegenwärtigen Rechtspraxis ausgerichtet.[109] So meint Kötz , dass die durch Vergleich erzielten Ergebnisse zwar „nirgends“ gelten, aber bei steigender Bekanntheit durchaus Geltung erlangen könnten, indem sie von den Gerichten bei der Auslegung und Rechtsfortbildung angewendet werden und so „der Bestand gemeinsamer Regeln und Prinzipien auf diesem Gebiet ins Bewusstsein“ gehoben wird.[110]
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Die europäische Auslegung muss, gerade angesichts des Prozesses der Vereinheitlichung des Privatrechts in der EU, unterstützt werden. Eine Pflicht zu einer solchen Auslegung besteht meist nicht. Ob sie möglich ist, hängt davon ab, ob das nationale Recht einen entsprechenden Auslegungsspielraumbietet. Soweit dieser besteht, kann dann jeweils für den konkreten Fall abgewogen werden, ob die europäischen Erwägungen – die im Grunde kaum mehr als Anregungen sind – zu einer sinnvollen und zukunftsgerichteten Normauslegung beitragen können.
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