cc) Staatshaftung als wirksames Druckmittel
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Diese vom EuGH geschaffene Haftungskonstruktion wirkt als erhebliches Druckmittelfür die rechtzeitige Umsetzung. Die Geschwindigkeit, mit der die nationalen Gesetzgeber unter diesem Druck tätig werden können, hat sich in Deutschland beispielsweise nach der Entscheidung Heininger des EuGH gezeigt. Hier schien für den Staat zunächst die Gefahr zu drohen, hunderttausende geschädigter Investoren entschädigen zu müssen. Nur wenige Monate nach der Entscheidung trat ein dreifaches „Reparaturgesetz“ zur weiteren Anpassung des BGB an die Haustürgeschäfte-RL und die Verbraucherkredit-RL in Kraft (inhaltlich zur Entscheidung näher unten Rn. 363 f.).
dd) Exkurs: Staatshaftung oder Direktwirkung?
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In der Rechtsprechung von BGH und EuGH ist in den vergangenen Jahren immer wieder aufgefallen, dass trotz eines Umsetzungsfehlers am Ende nicht der Staat haften musste, sondern die private Vertragspartei – in scheinbarer Direktwirkung– zur Befolgung der Richtlinie verpflichtet wurde. Dann musste etwa der Unternehmer sich den Widerruf gefallen lassen, obwohl das Widerrufsrecht sich aus dem nationalen Recht nicht ernstlich ergab.[19]
Die Reichweite der „richtlinienkonformen Auslegung“ hat Wissenschaft und Rechtsprechung in den letzten Jahren sehr beschäftigt (dazu näher unten Rn. 123 ff.) und es erfolgt in der Regel eine dogmatisch durchaus korrekte Abgrenzung zwischen den Fällen, in welchen noch das nationale Recht richtlinienkonform fortgebildet werden kann, und den Fällen, in denen dies nicht möglich ist, so dass die Vorgaben der Richtlinien unbeachtet bleiben müssen. Diese Abgrenzung berücksichtigt sehr wohl, dass es im Privatrecht keine Direktwirkunggibt. Die Gerichte unternehmen jedoch im Rahmen des Zulässigen alle Anstrengung, das nationale Recht durch Auslegung und durch Analogien so zu verstehen, dass es der Richtlinie entspricht. Wo diese Fortbildung gelingt, ist in der Tat der Unternehmer (bzw. außerhalb des Verbraucherrechts eben eine der beiden Vertragsparteien) der Leidtragende, während der Staat der Haftung entrinnt. Die durch die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung herausgearbeiteten Rechte – oder Rechtsverluste – dürften die negativ betroffene Partei teils sehr überraschen. Daher ist sogar schon vorgeschlagen worden, dass dann, wenn durch eine Rechtsfortbildung der Norminhalt in einer Weise verändert wird, der ohne Kenntnis der Richtlinie nicht vorhersehbar war, die benachteiligte Vertragspartei einen Staatshaftungsanspruch haben sollte.[20] Dieser Vorschlag sollte aber eher als plakative Ermahnung denn als realistische Alternative verstanden werden. Denn die dem Vorschlag zugrundeliegende Verursachungskette grenzt doch schon an das Paradoxe. Der betroffene Unternehmer müsste nämlich einerseits argumentieren, dass die Rechtslage für ihn aufgrund der mangelnden Umsetzung nicht erkennbar gewesen sei, so dass er aufgrund des Umsetzungsfehlers einen Schaden erlitten habe. Andererseits hat das Erstgericht, welches dem Unternehmer die Befolgung der in der Richtlinie vorgesehenen Pflichten (z.B. die Gewährung eines Widerrufsrechts) auferlegt hat, genau im Gegenteil angenommen, dass man die Rechtslage bei richtlinienkonformer Auslegung dem Gesetz hätte entnehmen können. Zu Letzterem sind zumindest große Unternehmen, wie Banken, in der Tat in der Lage. Sie beobachten die Entstehung von EU-Richtlinien genau und vermögen die sich daraus ergebenden Änderungen der Rechtslage zu erkennen, auch ohne dass es dazu einer ausdrücklichen Änderung der deutschen Gesetze bedarf.
§ 4 Umsetzung, Anwendung und Auslegung von EU-Privatrecht› A. Die Richtlinie und ihre Umsetzung › II. Die überschießende Umsetzung
II. Die überschießende Umsetzung
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Häufig werden Richtlinien nicht nur entsprechend ihrer exakten Vorgaben umgesetzt, sondern der nationale Gesetzgeber geht bei der Umsetzung über die Vorgaben der Richtlinie hinaus. Diese über die Vorgaben der Richtlinie hinausgehende Umsetzung wird meist als überschießende Umsetzung bezeichnet. Die überschießenden Normen werden auch Hybridnormen genannt.[21]
Dabei gibt es im Wesentlichen zwei Arten, wie eine nationale Norm über die Richtlinie hinausgehen kann. Es ist zweckmäßig, diese zu unterscheiden.
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Die typische Form der überschießenden Umsetzung besteht darin, dass der Anwendungsbereichder Richtlinie ausgedehnt wird. So ist in Deutschland das der Verbrauchsgüterkauf-RL nachgebildete neue Kaufrecht zu einem großen Teil auch auf Kaufverträge anwendbar, die nicht zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher abgeschlossen worden sind. Das Widerrufsrecht für Verbraucherkredite, das in § 495 BGB umgesetzt ist, erfasst anders als die Richtlinie auch Immobiliarkredite (das galt auch schon vor Umsetzung der Wohnimmobilienkredit-RL, näher unten Rn. 355).
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Es gibt aber auch eine andere Art der überschießenden Umsetzung. Bei dieser erweitert der Gesetzgeber die inhaltlichen Vorgabender Richtlinie. Er fügt dem umsetzenden Gesetz also neue, der Richtlinie fremde Elemente hinzu. Das kann z.B. ein in der Richtlinie nicht vorgesehenes Widerrufsrecht sein oder es können über die Richtlinie hinausgehende Schadensersatzansprüche sein, wie das Verbrauchsgüterkaufrecht sie enthält. Diese (ebenfalls häufige) Form der überschießenden Umsetzung zielt auf eine Erhöhung des von der Richtlinie verlangten Standards. Sie bringt als wesentliches Problem mit sich, dass die Harmonisierung auf diese Weise nicht erreicht werden kann und das Ziel der Binnenmarktverbesserung gefährdet wird (schon oben Rn. 23).[22] Mit so genannten Vollharmonisierungs-Richtlinien versucht die EU, diese Praxis der Mitgliedstaaten einzugrenzen.
§ 4 Umsetzung, Anwendung und Auslegung von EU-Privatrecht› B. Die Anwendung des EU-Privatrechts
B. Die Anwendung des EU-Privatrechts
§ 4 Umsetzung, Anwendung und Auslegung von EU-Privatrecht› B. Die Anwendung des EU-Privatrechts › I. Lückenhaftes, nur mittelbar geltendes EU-Privatrecht
I. Lückenhaftes, nur mittelbar geltendes EU-Privatrecht
1. Mittelbare Geltung des eigentlichen EU-Privatrechts
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Der Umgang mit dem EU-Privatrecht unterscheidet sich sehr vom Umgang mit Recht, wie wir ihn sonst kennen. Da das EU-Privatrecht fast ganz aus Richtlinien besteht, stellt es so gut wie keine Normen zur Verfügung, die unmittelbar auf einen Rechtsfall angewendet werden könnten. Es handelt sich also um eine Art Hintergrundrechtsordnung. Vordergründig wird eine im nationalen Recht enthaltene Norm angewendet. Bei der Anwendung des nationalen Rechts muss jedoch ständig abgeklopft werden, ob auch die Vorschriften der „europäischen Hintergrundrechtsordnung“ eingehalten sind.
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Teilweise ist diese Geltung im Hintergrund mit der Geltung des Verfassungsrechtsverglichen worden. Entsprechend wird dann auch die richtlinienkonforme Auslegung mit der verfassungskonformen Auslegung verglichen.[23] Ähnlichkeit besteht durchaus, denn auch das Verfassungsrecht wird im Privatrecht beachtet und kann die Gültigkeit privatrechtlicher Normen sowie die Auslegung des Privatrechts beeinflussen. Ein solcher Vergleich ist jedoch mit großer Vorsicht zu handhaben, da die Wertigkeit des EU-Rechts (beispielsweise die Pauschalreise-RL) mit der Wertigkeit des Verfassungsrechts nicht auf eine Stufe gestelltwerden kann. Nützlich ist der Vergleich dennoch, da er gewissermaßen wachrüttelt. Die Konformität mit dem EU-Recht muss in der Tat immer mitberücksichtigt werden, wenn nationales Recht ausgelegt wird. Im Konfliktfall setzt sich das EU-Recht durch.
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