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Nicht nur ist das EU-Privatrecht kein Kodex, der auf bestimmte Rechtsfälle angewendet werden könnte. Das EU-Privatrecht ist zusätzlich auch inhaltlich ganz bruchstückhaft. Es ist auf Problemschwerpunkte ausgerichtet und regelt diese punktuell. Keinesfalls kann das EU-Privatrecht bisher als eine Rechtsordnung mit einigen Lücken angesehen werden, die durch Analogien geschlossen werden könnten. Richtig ist vielmehr die Beschreibung des EU-Rechts als einzelne, zumeist klar umgrenzte „Inseln“.[24]
So kommt es, dass es eine Richtlinie über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten gibt, aber keine Regelungen über die Miete und den Kauf von Immobilien. So erklärt sich auch, dass es zwar eine Richtlinie über Warenlieferungs- und Dienstleistungsverträge an der Haustür gibt, dass jedoch keine Regelung über Bürgschaftsverträge an der Haustür besteht (näher dazu unten Rn. 338). Auch die Verbraucherrechte-RL, die zumindest zwei Richtlinien aneinander angepasst hat, konnte nur kleinere Verbesserungen erreichen.[25] Im Gegenteil birgt die neue Tendenz zum Erlass vollharmonisierender Richtliniendie Gefahr, dass die Richtlinieninhalte im nationalen Recht noch fremder, und damit noch „inselartiger“, wirken.
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Eine wirkliche Geschlossenheit des Systems („Kohärenz“), wie sie in Art. 7 AEUV übrigens sogar ausdrücklich vorgegeben ist, könnte nur durch einen völlig neuen, großen Wurf erreicht werden.
Wiewohl die Versuche, ein vollständiges „Vertragsrecht“ einzuführen, seit dem Scheitern des GEK ( Rn. 18, Rn. 619und Anhang III) kaum noch verfolgt werden, wird das punktuelle Regelungskonzept allgemein als unbefriedigend empfunden. Die Kommission hat mit dem New Deal for Consumers[26] zuletzt einen Anlauf unternommen, etwas mehr Kohärenz herzustellen (dazu näher Rn. 645).
§ 4 Umsetzung, Anwendung und Auslegung von EU-Privatrecht› B. Die Anwendung des EU-Privatrechts › II. Die Auslegung des EU-Privatrechts
II. Die Auslegung des EU-Privatrechts
Literaturhinweis:
Basedow , Der Europäische Gerichtshof und das Privatrecht, AcP 210 (2010), 157.
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Vielfach und eingehend wurden die Methoden untersucht, die bei der Auslegung des EU-Rechts zu verwenden sind.[27] Dabei steht oft die Frage im Vordergrund, wie der EuGH das EU-Recht auslegt. So anzusetzen ist zunächst richtig. Der EuGH hat nämlich das Auslegungsmonopolfür das EU-Recht (dazu unten Rn. 139). Er bestimmt daher auch die Methodikder Auslegung. Gleichzeitig muss aber bedacht werden, dass der EuGH nicht sämtliche methodische (oder auch dogmatische) Arbeit allein zu leisten vermag. Auch der Wissenschaft kommt daher eine wichtige unterstützendeAufgabe zu.
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Die Methoden des EuGH werden nicht selten kritisiert. Teils ist die Kritik sogar so weit gegangen, dem EuGH jede Methodik abzusprechen.[28] Auf der anderen Seite hat sich aber bei allen Untersuchungen immer wieder herausgestellt, dass die Auslegung des EU-Rechts durch den EuGH deutschen Gepflogenheiten sehr nahe kommt. Die Ergebnisse lassen sich dahin zusammenfassen, dass besondere, im deutschen Recht zuvor unbekannte Methoden nicht auffindbar sind. Schon eine kurze Auswertung des Materials ergibt vielmehr, dass der EuGH insgesamt ganz ähnlich wie die deutschen Gerichtevorgeht.[29] Der EuGH äußert sich beispielsweise so: „Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes sind bei der Auslegung einer Gemeinschaftsvorschrift nicht nur deren Wortlaut zu berücksichtigen, sondern auch der Zusammenhang, in dem sie steht, und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden.“[30]
2. Die Auslegungsmethoden des EuGH
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Der EuGH betrachtet, wenn möglich, in erster Linie den Wortlaut der Normen.[31] Begrenzt wird die Bedeutung des Wortlauts allerdings dann, wenn sich bei Fragen der exakten Wortbedeutung das Problem der Sprachenvielfaltstellt.[32] Daher ist es bei wirklich sprachlichen Zweifelsfragen in der Regel nicht der Wortlaut, der die Entscheidung letztlich bestimmt.[33]
b) Systematische Auslegung
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Zwischen der Wortlautmethode und der teleologischen Methode wird manchmal die sogenannte systematische Auslegung eingefügt. Sie beginnt, wo neben dem konkreten Wortlaut der Norm auch Nachbarnormenmitberücksichtigt werden, erstreckt sich aber auch auf den weiteren Zusammenhang, in dem die Norm steht, und geht damit schließlich fließend über in die teleologischen, also den Zweck der Norm ergründenden Überlegungen.
Auch der EuGH verwendet die systematische Auslegung nicht wirklich gesondert, sondern fasst sie in den Bereich der teleologischen Auslegungmit hinein:[34] „Jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts ist in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts auszulegen.“[35]
c) Teleologische Auslegung
aa) Grundsätzliche Bedeutung
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Die zentrale Auslegungsmethode des EuGH ist die teleologische, also die am Zweck des Gesetzes orientierte Methode.[36] Dabei werden – entweder als Teil der teleologischen Methode oder in deren Nähe – einige Besonderheiten angesiedelt. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass der Auslegungsvorgang, der hier als Besonderheit aufgefasst wird, nur deshalb so erscheint, weil bereits Inhalte, und zwar solche spezifisch europäischer Art, einbezogen werden.
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Der EuGH verwendet bei der Auslegung den Grundsatz des „effet utile“.[37] Der „effet utile“ bedeutet, dass eine Norm so verstanden werden soll, dass sie den größten praktischen Nutzenerreicht.[38] Was jeweils der „praktische Nutzen“ ist, entnimmt der EuGH nicht nur aus der Norm selbst, sondern auch aus den allgemeinen Grundsätzen des EU-Rechts.[39] Die Norm wird jeweils so ausgelegt, dass die mit ihr angestrebten Ziele möglichst in idealer Weiseerreicht werden können. Der Grundsatz des „effet utile“ ist somit wirklich nur eine Form der teleologischen Methode, bei der inhaltliche Vorgaben mit einbezogen sind.
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Als wichtiger Grundsatz der Auslegung und auch als gewisse Besonderheit ist die „autonome Auslegung“ anzusehen. Sie stellt allerdings keine eigentliche Methodeder Auslegung dar. Der Begriff autonome Auslegung wird vielmehr verwendet, um zu bezeichnen, welches Recht bei der Auslegung zugrunde gelegt wird. Autonom bedeutet im Zusammenhang des EU-Rechts, dass die Auslegung von den Inhalten der nationalen Gesetze und den Auffassungen der nationalen Gerichte gelöst , nämlich allein aus dem AEUV und dem dazu gehörigen EU-Recht, erfolgt.[40]
Vertraut ist der Begriff insbesondere in Bezug auf die prozessualen und kollisionsrechtlichen Verordnungen, wie etwa die EuGVVO (früher auch schon für das EuGVÜ) und die Rom-Verordnungen (sowie früher das EVÜ). Auch Richtlinien müssen aber jedenfalls im Ansatz autonom ausgelegt werden.[41] Die in Richtlinien verwendeten Rechtsbegriffe können also nicht ohne weiteres den entsprechenden Begriffen des nationalen Rechts gleichgesetzt werden.[42] Die autonome Auslegung wird nicht in allen Einzelfragen verwendet, sondern nur, wenn sie im jeweiligen Zusammenhang brauchbarerscheint.[43]
Das Gegenstück zur autonomen Auslegung ist die vergleichende Auslegung, bei der die Lösung der Zweifelsfrage gerade nicht aus dem EU-Recht selbst, sondern aus den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten heraus gesucht wird.
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