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Wenn eine Richtlinie nicht ordnungsgemäß umgesetzt worden ist, kann sie unter bestimmten Voraussetzungen „unmittelbar“ anwendbar sein.[7] Die unmittelbare Wirkungscheidet jedoch nach ständiger Rechtsprechung des EuGH und nach ganz herrschender Auffassung aus, soweit sie zu Lasten des Bürgers gehen würde.[8] Zu Lasten des Bürgers wirkt unter anderem jede Anwendung, die dazu führt, dass ein Anspruch gegen einen Bürger begründet wird. Da zivilrechtliche Normen typischerweise dazu führen, dass ein Anspruch eines Privaten gegen einen anderen entsteht, modifiziert wird oder auch untergeht, geht die unmittelbare Anwendung zivilrechtlicher Normen stets (auch) zu Lasten des Bürgers. Im Gegensatz zur „vertikalen Direktwirkung“ im Verhältnis zwischen Staat und Bürger interessiert im Bereich des Zivilrechts die „horizontale Direktwirkung“ im Verhältnis der Bürger untereinander. Eine solche horizontale Direktwirkung von Richtlinien gibt es also nicht(sogleich Rn. 98zu den konkreten Auswirkungen der fehlenden Direktwirkung).
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Im Beispiel 5wird sich die Bank darauf berufen, dass sie nach den Regeln des nationalen Rechts gehandelt habe und die Richtlinie nicht umgesetzt sei. Damit wird sie durchdringen. Zwar versuchen die Gerichte der Mitgliedstaaten, soweit nur möglich das nationale Recht im Sinne der Richtlinie auszulegen (dazu Rn. 86und 123 ff.). Aber im hier gebildeten Fall werden sie damit keinen Erfolg haben. Ein Widerrufsrecht lässt sich eindeutig nicht auffinden.
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Allerdings hat eine arbeitsrechtliche Entscheidung des EuGH, nämlich die berühmte Entscheidung Mangold, dazu Beispiel 11 Rn. 265, diese Erkenntnis ins Wanken gebracht.[9] Dort war – zumindest scheinbar – ein privater Arbeitsvertrag für nichtig erklärt worden, weil er gegen eine Vorschrift aus einer Richtlinie verstieß, die (noch) nicht ins deutsche Recht umgesetzt worden war. Die dadurch faktisch erreichte Direktwirkungder Richtlinie ist zunächst auf zwei unterschiedliche Arten erklärt worden. Zum einen wurde darauf hingewiesen, dass nicht nur die Richtlinie, sondern zugleich ein allgemeiner Rechtsgrundsatzdes EU-Rechts, nämlich das Diskriminierungsverbot (oder umgekehrt gesagt der Gleichbehandlungsgrundsatz) verletzt wurde (dazu oben Rn. 36und unten Rn. 269). Zum anderen wurde aufgezeigt, dass der EuGH überhaupt keine echte Direktwirkung angenommen habe. Es handele sich vielmehr um eine automatische und unvermeidliche Konsequenz aus dem Vorrang des EU-Rechts, dass der Arbeitgeber letztlich direkt betroffen ist. Denn die Richtlinie führt dazu, dass die im nationalen Recht enthaltene Befristungsregel unanwendbar ist, was wiederum dazu führt, dass die im Arbeitsvertrag enthaltene Befristung nichtig ist.[10] Die neuere Rechtsprechung des EuGH, wie z.B. der oben besprochene Fall Kücükdeveci, zeigt, dass diese beiden Begründungsstränge kombiniertverfolgt werden müssen (näher bereits Rn. 36, 83).[11]
Der EuGH wendet Richtlinien somit nie wirklich unmittelbar gegen Private an. Er wird aber nationale Normen für unanwendbar erklären, wenn sie gegen eine Richtliniennorm verstoßen, hinter der ein allgemeiner Rechtsgrundsatz steht. Das kann sich auf ein privates Vertragsverhältnis auswirken.
b) Vertragsverletzungsverfahren
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Das Vertragsverletzungsverfahren ist das eigentliche, im AEUV vorgesehene Mittel der EU zur Durchsetzung der Umsetzungspflicht. Es wird von der Kommission gegen den säumigen Mitgliedstaat durchgeführt. Das in Art. 258 ff. AEUV geregelte Vertragsverletzungsverfahren, welches in Art. 260 Abs. 2 AEUV die Möglichkeit der Verhängung eines Zwangsgeldes vorsieht, ist allerdings schwerfällig. Bis ins Jahr 2006 hinein hat die Kommission gegen Frankreich ein solches Verfahren zur Erzwingung der korrekten Umsetzung der Produkthaftungs-RL (von 1985!) betrieben. Es wurde ein Zwangsgeld festgesetzt und Frankreich hat das Produkthaftungsrecht schließlich korrekt umgesetzt.[12]
Besonders schwierig ist das Vorgehen für die Kommission, wenn es nur um die fehlerhafte Umsetzungeiner Richtlinie und nicht um das völlige Untätigbleiben des nationalen Gesetzgebers geht. Der EuGH erlegt nämlich der Kommission auf, nachzuweisen, dass die nationalen Gerichte die umgesetzten Vorschriften – auch wenn diese von der Richtlinie deutlich abweichen – nicht doch richtlinienkonform auslegen werden.[13]
Letztendlich kann jedoch – jedenfalls für die grob fehlerhafte oder fehlende Umsetzung – von der Wirksamkeit des Verfahrens ausgegangen werden.
c) Staatshaftungspflicht
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Wenn eine unmittelbare Wirkung der Richtlinie nicht in Betracht kommt, kann die verspätete Umsetzungnach der gefestigten Rechtsprechung des EuGH zu einer Staatshaftung führen. Der Betroffene kann danach vom Staat Ersatz für den Schaden erlangen, der ihm entsteht, weil er sich gegenüber seinem Vertragspartner nicht auf Normen stützen kann, die zwar zu seinen Gunsten in der Richtlinie vorgesehen waren, aber in seinem Land noch nicht umgesetzt worden sind.
So führte schon in den 1990er Jahren die verspätete Umsetzung der Pauschalreise-RL zu einer Schadensersatzpflicht der Bundesrepublik Deutschland gegenüber Urlaubern, die nach einem Konkurs des Reiseveranstalters in Spanien festsaßen.[14] Denn die Urlauber waren für diesen Fall im deutschen Recht nicht hinreichend abgesichert. Ähnliches hat sich Ende 2019 bei der Insolvenz des Reiseanbieters Thomas Cookwiederholt. Das deutsche Recht erlaubt nämlich in § 651r Abs. 3 S. 2 BGB eine Deckelung der Haftung bei Insolvenzen. Danach kann der Versicherer seine Haftung auf einen Betrag von 110 Mio. Euro pro Geschäftsjahr begrenzen.[15] Davon hatte die Versicherung wenig überraschend auch bei Thomas Cook Gebrauch gemacht. In diesem Fall reichte der Betrag aber nicht für die volle Abdeckung der riesigen durch die Insolvenz verursachten Schäden. Da Art. 17 Pauschalreise-RL einen „sicheren“ Insolvenzschutz für alle nach „vernünftigem Ermessen vorhersehbaren Kosten“ verlangt, ist es zumindest wahrscheinlich, dass hier ein Umsetzungsfehler vorliegt.[16] Die Bundesregierung hat daraufhin erklärt, alle Betroffenen entschädigen zu wollen. Ob sie dazu nach der Francovich-Doktrin auch verpflichtet war, wurde somit nicht abschließend geklärt.
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Für eine Staatshaftung reicht aber jedenfalls nicht jeder Umsetzungsfehler aus. Es muss vielmehr ein hinreichend qualifizierter Verstoßvorliegen, was zum Beispiel dann zu verneinen sein kann, wenn der Gesetzgeber annahm und annehmen durfte, er habe die Richtlinie richtig umgesetzt.[17]
Im Beispiel 5( Rn. 89) gibt es keinerlei Ausflüchte für den Mitgliedstaat M. Er hat die Pflicht zur Umsetzung der Richtlinie verletzt. Die Richtlinie enthielt mit dem Widerrufsrecht außerdem eine Regelung, die den V im Falle der korrekten Umsetzung begünstigt hätte. Der V kann also den Schaden, den er durch die fehlende Widerrufsmöglichkeit erleidet, als Staatshaftungsanspruch gegen M geltend machen. Es handelt sich um die Zinsen, die er bezahlen muss, abzüglich eventueller Zinsgewinne, die er machen kann, wenn er die Kreditsumme seinerseits anlegt.
bb) Verletzung der Umsetzungspflicht durch nationale Gerichte
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Die Staatshaftungspflicht besteht sogar dann, wenn der Verstoß gegen das EU-Recht nicht durch den Gesetzgeber, sondern durch die nationalen Gerichteerfolgt.[18] Die Staatshaftungspflicht tritt also auch dann ein, wenn die nationalen Gerichte das nationale Recht in einer Art und Weise anwenden, welche erkennbar gegen das EU-Recht verstößt.
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