Der Soldat drehte das Papier in Steinkinds Richtung. „Dann lies!“
„P… Pr… Pro…vi…vind? Nein“, verbesserte er sich hastig, als er das Wort endlich erkannte. „Proviant… liste.“
„Ein wenig ist noch ziemlich reichlich überschätzt“, knurrte der Graubart. „Ich kann nur hoffen, dass es mit deinen Zielkünsten besser aussieht. Komm!“
Er packte Steinkind am Arm und zerrte ihn aus seinem Büro heraus und um die Hausecke. Dahinter war ein kleiner Schießstand errichtet worden. Ein Bogen lag auf einem Strohballen, in dem mehrere Pfeile steckten. „Bedien dich!“
Steinkind zog einen der Pfeile aus dem Ballen, spannte den Bogen und legte an. Die Zielscheibe war nicht allzu weit entfernt. Aber der Bogen war größer und schwerer als der, den er bei den Nordmännern versucht hatte. Seine Armmuskeln zitterten, als er das Ziel anvisierte. Der Pfeil traf gerade noch den Rand der Strohscheibe. Steinkind runzelte die Stirn. Dann hob er einen Kieselstein vom Boden auf, nahm das Lederband aus seinen Haaren und begann, die improvisierte Schleuder zu schwingen. Wenn das jetzt ein Kaninchen wäre und er ohne diese Kaninchen kein Mittagessen haben würde …
Der Stein traf die Mitte der Scheibe.
„Besser als ich dachte.“ Der Graubart klang immer noch brummig, aber nicht mehr abweisend. „Vielleicht können wir ja tatsächlich einen Soldaten aus dir machen. Zurück ins Büro mit dir. Da ist noch einiges an Papierkram zu erledigen.“
Ein schlanker Holzpfosten stand auf dem Hof, knapp mannshoch, gekrönt von einem fest mit Sand gefüllten Lederball.
Der Hauptmann grinste. „Antreten, Reihe bilden, draufschlagen! Und danach eine Runde um den Hof laufen, bis ihr wieder dran seid!”
„Aber … der Sandsack ist viel zu hoch angebracht!”, wagte Norad zu bemäkeln.
„Na und? Glaubst du, dass du im Kampf immer nur auf Gegner treffen wirst, die gleich groß oder kleiner sind als du? Marsch, marsch, ab nach vorne! Du fängst an!”
Der Sandsack war harte Arbeit. Nach dem siebten Durchgang begann Steinkind, seine Muskeln zu spüren, und seine Knöchel waren gerötet. Aber er schlug weiter zu, so fest er konnte.
Der fünfzehnte Durchgang. Steinkinds Muskeln brannten und seine Knöchel bluteten jetzt. Der Pfahl begann vor seinen Augen zu verschwimmen. Er visierte den Sandsack an. Undeutlich nahm er eine Bewegung im Hintergrund wahr. Etwas Weißes. Etwas unförmiges, walzenartiges Weißes. Etwas näher kommendes Weißes, das hinter dem Pfahl innehielt und ihn anstarrte. Götter, nein! Nicht die Weißgesichtigen! In einer Aufwallung von Hass und Verzweiflung schlug er zu, geradewegs in das weißteigige Gesicht.
Holz splitterte. Der Sandsack fiel mit einem dumpfen Geräusch herab. Das Weiße hinter dem Pfahl machte einen erschrockenen Satz nach hinten. Und Steinkind stand wie erstarrt.
Es war der große Bärenhund des Prinzen.
Für einen Moment konnte er nur einen Gedanken fassen: Sie sind doch nicht hier!
Dann folgt ein zweiter, keineswegs beruhigenderer Gedanke: Was, wenn er sich tatsächlich aus Versehen mit dem Lieblingstier des Prinzen angelegt hätte? Der Hund konnte Bären töten. Mit einem Menschen hätte er vermutlich nicht viel Federlesens gemacht.
„Zu tief gezielt.” Der Hauptmann trat neben Steinkind. Mit den Fingern maß er die Dicke des Pfahls. Volle zwei Zeigefinger. „Aber verdammt noch mal, du hast einen guten Schlag, Junge! Wie eine steinerne Faust.”
Abends, beim Bier, beschlossen seine Kameraden, ihn umzubenennen. „Ein Kind bist du eh schon lange nicht mehr!” Drowus Hand landete krachend auf Steinkinds Schulter. „Da wird es doch Zeit, dass du einen anständigen Männer-Namen kriegst. Der Hauptmann hatte recht. Du hast eine Steinfaust.”
Damit hatte Steinkind einen neuen Namen.
Was war an jenem Nachmittag überhaupt geschehen? Steinfaust war sich selbst nicht sicher. Er wusste nur eines mit Bestimmtheit: Selbst der stärkste Mann im Dorfe war zu Hause nicht in der Lage gewesen, einen dicken Holzpfahl ohne Werkzeug zu zerlegen.
Er probierte es. Mit dünnen Brettern zunächst, dann mit dickeren. Seine Faust zerschlug fingerdicke Planken, daumendicke – aber viel mehr nicht. Steinfaust holte sich wieder und wieder wunde Knöchel.
Irgendwann entdeckte er, dass er mehr Kraft in den Handkanten als in den Fäusten hatte. Aber auch mit den Handkanten konnte er nicht mehr als zwei Finger dickes Holz zerteilen.
Was war anders gewesen an jenem Nachmittag?
Die Holzplanke stand vor ihm, eine Armlänge tief in den festgestampften Boden eingegraben. Sie federte ein wenig vom letzten Schlag, fast, als ob sie ihn verhöhnen wollte. So, wie ihm auch das Lächeln der Weißgesichtigen höhnisch erschienen war.
Die Weßgesichtigen …
Er hatte den Hund gesehen hinter dem Pfahl. Gesehen und nicht gesehen. Seine Fantasie hatte ihm vorgegaukelt, es wäre einer der Weißgesichtigen. Noch während er daran dachte, stieg der Hass wieder in ihm hoch, der Abscheu, der dringende Wunsch, dieses verdammte weiße, lächelnde Gesicht zu zerschlagen. Wie von selbst fuhr seine Faust hoch.
Die Holzplanke zersplitterte.
Das war das Geheimnis! Steinfaust betrachtete halb ungläubig, halb erleichtert die Splitter. Er durfte nicht auf die Planke zielen. Er musste versuche, ein dahinter liegendes Ziel zu treffen.
Sofort probierte er es erneut. Die nächste Planke zerbarst beim ersten Versuch.
Ebenso die übernächste. Und eine vierte. Und eine fünfte.
Acht Holzplanken später hörte Steinfaust auf. An einer Stelle seiner Knöchel sah der blanke Knochen heraus.
Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass nahe der Hofmauer seine Kameraden begeistert Beifall johlten. Dann legte sich eine schwielige Hand auf seine Schulter. Der Hauptmann.
„Du blutest. Räum auf, versorge deine Hand und komm dann zu mir ins Büro.”
Bis Steinfaust beim Hauptmann war, hatte er gemerkt, wie sehr seine Hand schmerzte. Sie war auf das doppelte ihres normalen Umfangs angeschwollen und er spürte jeden Pulsschlag schmerzhaft in dem entzündeten Gewebe.
„Das war dumm“, kommentierte der Hauptmann. „Aber das hast du ja wohl selbst inzwischen gemerkt.“
„Ich hätte nach der zweiten, spätestens der dritten Planke aufhören müssen“, gestand Steinfaust ein.
„Und warum hast du es nicht getan?“
Steinfaust zuckte mit den Achseln. „Weiß ich nicht. Irgendwie … es war wie ein Rausch.“
„Du hast etwas erlebt, was nur wenige Krieger je schaffen. Du hast dich in Berserkerwut hineingesteigert. Ein Zustand, in dem man übermenschliche Kräfte entwickelt und keine Schmerzen spürt. Dummerweise auch ein Zustand, in dem man nicht mehr richtig denken kann.“
Kara hatte erzählt, dass sein Vater in der Schlacht zum Berserker wurde. Es hatte sich nicht angehört, als ob er das für eine Dummheit hielt. Aber die Nordmänner mochten das anders sehen als ein Hauptmann der narkassianischen Armee.
„Kann ich verhindern, dass ich noch einmal in diesen Zustand verfalle?“
„Nur mit eiserner Disziplin. Die Frage ist, ob du das willst.“
Steinfaust überlegte. Der Hauptmann sprach mit Sicherheit nicht grundlos mit ihm. „Sollte ich das wollen?“
Als keine Antwort kam, stocherte er nach. „Welchen Vorteil hätte ich, wenn ich der Berserkerwut wieder nachgebe, und welchen, wenn ich sie durch Disziplin beherrsche?“
Der Hauptmann nickte, als ob er etwas bestätigt sah. „Du hast Grips. Sag mir, Junge, wo siehst du dich in zehn Jahren? Welchen Posten willst du dann haben? Wo in zwanzig Jahren, wo in dreißig?“
„In dreißig Jahren will ich der oberste General der Armee sein.“ Steinfausts Antwort kam, bevor er überhaupt darüber nachdachte. Erschrocken hielt er den Atem an. Was, wenn er jetzt den Hauptmann beleidigt hatte? Konnte ein Zugewanderter aus Meelas überhaupt einen höheren Rang in der Armee erreichen?
Читать дальше