Steinkind schloss den Mund wieder. Hörte wie aus weiter Ferne den Herrn wieder befehlen.
„Peitsch ihn, bis das Leben aus ihm gewichen ist. Dann sollen alle an ihm vorbeigehen und sein Gesicht ansehen. Ich will, dass jeder weiß, was ihn bei Ungehorsam erwartet. In diesem Haus gibt es nur einen Willen: meinen. Entweder ihr erfüllt ihn oder ihr sterbt. Wie dieses Stück Ungeziefer hier.”
„Er hat dich gemocht, weißt du. Irgendwie hast du ihn an seinen Sohn erinnert.“ Phe griff in die Kirschschüssel, hob eine weitere nicht ganz perfekte Kirsche heraus und schob sie in seinen Mund. Der Herr bekam nur das Beste vorgesetzt. Was mit dem Rest geschah, kümmerte ihn nicht. Und die Kirschen schmeckten süß und saftig, auch wenn der eine oder andere Wurm darin war. Phe kaute, schluckte, spitzte die Lippen. Mit einem leisen Ploppen flog der Kirschkern durch die Luft. „Mist. Schon wieder zu kurz.“ Er sah zu Steinkind hinüber. „Wie schaffst du das bloß, den Sandfleck immer zu treffen?“
Indem er ein Stück höher zielte, so, wie er das von seiner Schleuder von früher kannte. Aber das sagte Steinkind nicht. Sollte Phe ruhig rätseln.
Sein Blick wanderte von dem Sandfleck über den Hof und wurde von einem hoch aufragenden Objekt wie magisch angezogen, das von den Strahlen der Mittagssonne in fahles, schattenloses weißgrau getaucht wurde. Die helle Farbe hatte Flecken. Langgezogene, dunkle Flecken. Seit Wargs Tod hatte es noch nicht wieder geregnet, sein Blut klebte noch immer an der Strafsäule. Steinkind erinnerte sich an das Gesicht, dass als einziger Teil von Wargs Körper nicht von der Peitsche zerfetzt worden war. Schmerzverzerrt, der Mund in einem Schrei erstarrt. Aber er hatte etwas gesehen, das dem Herrn entgangen war. Trotz allem hatte Warg bei seinem letzten Atemzug gelächelt.
Würde er das auch können? Denn dessen war Steinkind sich sicher: Wenn er in diesem Haus und bei diesem Herrn blieb, würde er es nicht mehr sehr lange überleben. Seit seinem Hexensohn war der Herr nicht mehr derselbe. Früher hatte er nur gestraft, wenn es einen guten Grund dafür gab, und nicht mit Lob gespart. Jetzt war seine Miene düster, seine Laune gefährlich, Lob gab es nicht mehr und die kleinste Kleinigkeit zog harte Strafen hinterher.
Ploppp! Der nächste Kirschkern verfehlte sein Ziel.
„Phe“, fragte er zögernd. „Wie kann ich es anstellen, in ein anderes Haus zu kommen?“
„Überhaupt nicht.“
„Aber … du bist doch auch in einem anderen Haus aufgewachsen.“
„Ja, klar. Der Herr könnte dich verkaufen. Oder sogar verschenken. Aber warum sollte er das tun? Du hast schon zur niedrigsten Kaste gehört, bevor du ein Sklave wurdest. Viehhüter, Erdwühler. Von der Sorte gibt es reichlich, und immer wieder verkaufen einige sich selbst als Sklaven, wenn sie nichts mehr zu beißen haben oder die Steuern nicht mehr zahlen können. Solche wie du sind billig und als Geschenk nichts wert.“
„Dann muss ich etwas tun, was mich wertvoller macht.“
„Vergiss es. Damit würdest du andere in ihrer Position bedrohen. So idiotisch, dich direkt dafür zu bedrohen, würde keiner sein, aber es gibt andere Wege. Glaub mir, du willst nicht das halbe Haus gegen dich haben.“
„Aber was kann ich sonst tun, um hier rauszukommen? Seit über einem Jahr habe ich jetzt nur noch Ställe ausgemistet, Hundezwinger gereinigt und Fußböden geschrubbt. Diese Kirschen hier sind schon die höchste Abwechslung, die ich überhaupt gekriegt habe. Und nichts davon hat mir Gelegenheit geschafft, auch nur einen einzigen Kupferling zu verdienen. Wie soll ich mich da je freikaufen können?“
Phe musterte ihn spöttisch. „Träumst du immer noch davon? Ich kenne keinen einzigen Sklaven unterhalb der Position eines persönlichen Dieners, der sich je freikaufen konnte. Und in diesem Haus schon gar nicht. Der Herr hält ein Auge auf sein Eigentum.“
Steinkind ballte die Fäuste. „Willst du damit sagen, dass ich daran niemals etwas ändern kann? Dass ich immer ein Sklave bleiben werde, der die Ställe und Hunde versorgt, und sonst nichts?“
Phe spuckte den nächsten Kirschkern aus. „Na ja, du könntest immer noch in den Bergwerken landen. Dorthin verkaufen sie Sklaven, die Schwierigkeiten machen.“
Steinkind starrte ihn an. „Bergwerke?“
„Irgendwoher muss das Eisen für Werkzeuge und Waffen ja kommen. Und niemand arbeitet dort freiwillig, immer umgeben von Stein und Dunkelheit. Niemand.“
Steinkind zuckte zusammen. Steine … Nein. Resolut blockierte er den Gedanken.
„Und wenn ich fliehen würde?“
Phe verschluckte sich fast an seiner Kirsche. „Hast du sie noch alle? Weißt du, wie weit es zur Grenze ist? Und hast du mal überlegt, wozu unser Herr seine Hunde in so einem Fall nutzen könnte? Glaub mir, du würdest es nicht schaffen. Niemand hat das je geschafft.“
„Vielleicht sind die Hunde besser, als ein Leben lang ein Sklave zu sein und die Peitsche zu fürchten.“ Steinkind starrte auf die Säule. Das Blut war steinhart geronnen und schwarz. Nicht einmal die Fliegen versuchten sich noch daran.
„Du könntest immer noch zur Armee gehen. Du bist stark, jemanden wie dich würden sie nehmen.“
„Armee?“
„Es gibt nicht viele Möglichkeiten hier in Narkassia, um aus einer Kaste herauszukommen. Aber in der Armee kannst du das.“
„Du meinst, ich kann da einfach hingehen und Soldat werden? Und unser Herr hätte keine Einwände?“
„Hätte er bestimmt nicht. Wenn die dich nehmen, zahlt die Armee die doppelte Ablösesumme für deinen Freikauf. Und das ist ein Vielfaches von den paar Stoffbändern und Flöten, die der Herr für dich bezahlt hat.“
„Aber du wusstest das die ganze Zeit und gehst trotzdem nicht zur Armee“, sagte Steinkind langsam. „Wo also ist der Haken bei der Sache?“
„Wer zur Armee geht, verlässt sie nie wieder. Das heißt, natürlich kann man sie verlassen, irgendwann. Aber nicht vor dem sechzigsten Winter. Und den erlebt so gut wie kein Soldat.“
Schweigen.
Phe spuckte den nächsten Kirschkern aus. Er landete dicht vor dem Sandfleck, keine zwei Finger breit entfernt.
„Aber ich könnte dort lernen. Und mit dem arbeiten, was ich gelernt habe“, sagte Steinkind schließlich. „Und keiner würde mich dafür auspeitschen, dass ich mehr erreichen will.“
Phe senkte bejahend seine Hand.
„Dann gehe ich zur Armee.“
Es war geradezu lächerlich einfach. Phe hatte ihm gesagt, wo das Rekrutierungsbüro war. Nachdem er die Hunde versorgt hatte, marschierte Steinkind geradewegs durch das Tor hinaus. Der seit dem Kind dort stehende Wachposten hielt ihn nicht auf, als er sein Ziel hörte.
Das Rekrutierungsbüro lag im Nordosten der Stadt, eine halbe Kerze Weglänge entfernt, ein kleiner Anbau aus roh behauenen Stämmen, deren Ritzen mit Lehm abgedichtet waren, am Südende der großen Steinbaracke. Die Tür stand weit offen. Der Bretterboden knarrte leise, als er hineinging. Der graubärtige Soldat, der an einem einfachen, aus Holz gezimmerten Tisch saß und etwas schrieb, sah hoch, legte die Feder zur Seite und kratzte sich hinter dem Ohr. „Du siehst nicht aus, als ob du zu meinen Leuten gehörst, Junge.“
„Würde ich aber gerne.“ Steinkind blieb stehen, jetzt doch ein wenig unsicher. Was, wenn der Soldat ihn einfach zurückschickte? „Mein Freund Phe hat gesagt, bei der Armee kann sich jeder bewerben.“
„Ja, jeder Idiot und Tölpel“, knurrte der Graubart. „Aber wer sagt, dass wir so jemanden dann auch gebrauchen können? Du siehst nicht aus, als ob du Kampferfahrung hast.“
„Ich war einen Sommer lang bei den Nordmännern. Ich kann sehr gut mit einer Schleuder und einigermaßen gut mit Pfeil und Bogen umgehen.“ Steinkind musterte das Papier auf dem Tisch. „Und ich kann lesen. Ein wenig.“
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