Der Hauptmann fragte nicht, als Steinfaust zurückkehre. Er drückte ihm lediglich ein neues Buch in die Hand. „Deine heutige Lektüre. Ein zukünftiger General muss wissen, für wen er kämpft. “
Steinfaust sah auf den Titel. Er hatte Mühe, ein Stöhnen zu unterdrücken. Die Geschichte der unteren Adelshäuser Narkassias, Teil 4, die südlichen Baronien. Das hieß, von diesem uninteressanten Zeug gab es noch mindestens drei weitere Bände, mit denen er sich vergnügen durfte. Vermutlich würde Ochon ihn anschließend abfragen, was den Inhalt betraf, so wie er das auch bei den anderen Büchern schon gemacht hatte.
Wenigstens war es einigermaßen dünn.
Steinfaust merkte bereits beim Betreten der Kantine, dass etwas in der Luft lag. Der Geräuschpegel war höher als normal, und praktisch an allen Tischen steckten die Fußsoldaten die Köpfe zusammen.
Der Hauptmann ignorierte das und steuerte direkt zur Essensausgabe. Steinfaust schien es eine gute Option, das Schweigen seines Vorgesetzten nachzuahmen.
Ochon war ungewöhnlich schweigsam beim Essen. So konnte Steinfaust nicht umhin, zu hören, was an den Tischen der Fußsoldaten diskutiert wurde.
„Der muss jemandem ganz gewaltig auf die Füße getreten sein!“
„Hat wohl geblutet wie ein Schwein.“
„Schlimmer. Den haben sie aber auch an der richtigen Stelle erwischt.“
„Du meinst …?“
„Genau das. Jemand hat ihm den Schwanz abgeschnitten.“ Der Sprecher grinste böse. „Geschah ihm recht. Der Mistkerl hat jede Frau genommen, die er erwischen konnte, und sogar ein paar Jungen. Eine Schande war der. Eine Schande für seine ganze Familie.“
„Und warum hat den dann nicht schon früher jemand um die Ecke gebracht?“
„Hat sich wohl keiner getraut. Immerhin sind die Ottersteiner um drei Ecken mit dem Shorok verwandt.“
Der Löffel mit den Pferdebohnen blieb zwei Herzschläge lang auf halber Höhe stehen, bevor Steinfaust ihn in seinen Mund schob. Das also war diese merkwürdige Schnitzerei gewesen. Ein Otter. Der Holzstab war eine Botschaft gewesen. Genauer gesagt, ein Mordauftrag.
Aber wer war Hauptmann Ochon, dass er einen Verwandten des Shorok ermorden lassen konnte? Und warum?
Drei Tage später wurde ein junger Sklave als Mörder hingerichtet. Ein sehr junger Sklave. Eigentlich war er noch ein Kind. Der Junge konnte kaum mehr als zwölf Winter zählen. Er zitterte, als er sein Urteil vernahm. Ausweiden und vierteilen. Aber dann richtete er sich auf, sah seinen Richtern ins Gesicht und erklärte laut und weithin vernehmbar: „Ich habe meinen Herrn nicht getötet. Aber ich wünschte, ich hätte es getan. Und wer auch immer der Mörder war, ich zolle ihm Beifall dafür, dass er die Welt von einem Widerling befreit hat.“
„Abführen“, knurrte der Richter, ohne von seinen Papieren aufzusehen.
Aber als zwei Gardisten den Jungen hinausbrachten, sah Steinfaust, wie der Richter den Kopf hob und nachdenklich hinter ihm her sah.
Die Hinrichtung war spektakulär … kurz. Irgendwie schaffte es der Henker, sein Messer etwas zu tief in den Leib des Jungen zu stoßen und die Pfortader zu verletzen. Er war tot, noch bevor die Schmerzen richtig begannen. Steinfaust dachte laut darüber nach, als er wieder bei Ochon saß.
„Man sollte meinen, dass einem erfahrenen Henker so ein Fehler nicht unterläuft.“
Ochon brummte etwas Unverständliches.
Steinfaust bohrte weiter. „Wird das Konsequenzen für ihn haben?“
„Warum sollte es?“ Ochon schrieb weiter an seiner Liste, ohne aufzusehen. „Der Ottersteiner hat nicht allzu viele Sympathien gehabt. Nicht mal bei seiner eigenen Sippe. Er soll sich nicht nur an Sklaven vergangen haben.“
„Dann könnte es also durchaus sein, dass der Sklave recht hatte und ein anderer seinen Herrn getötet hat.“
„Bestimmt nicht. Unser Gericht irrt sich bekanntlich nie. Schließlich untersteht es dem Shorok direkt, und der Shorok ist die Sonne der Gerechtigkeit.“
„Dann war es also dem Shorok nicht recht, was sein Vetter trieb.“
Ochon legte die Feder nieder, mit einer fast übertriebenen Sorgfalt. Dann stand er auf, kam zu Steinfaust und blickte ihm in die Augen. „Noch bist du kein General. Noch bist du nichts als ein unbedeutender, leicht zu ersetzender Bursche. Einer wie du hat nicht das Recht, über den Shorok zu mutmaßen oder auch nur seinen Namen in den Mund zu nehmen. Erinnere dich gefälligst daran, wo dein Platz ist.“
Bevor er sich wieder an seinen Tisch setzte, sah er noch einmal zu Steinfaust zurück. „Statt dir unnütze Gedanken zu machen, lies lieber das Buch, das ich dir gegeben habe. Jede einzelne Seite.“
Steinfaust las. Und revidierte sein Urteil. Das Buch war zwar in einem fürchterlich langweiligen Stil geschrieben, aber das, was darin stand, war alles andere als langweilig, jedenfalls dann nicht, wenn man zwischen den Zeilen zu lesen verstand. Das Buch war einer Aufstellung aller vergangenen Taten und Verträge, Hochzeiten und Bündnisse, Streitigkeiten und Straftaten sowie aller Stellungen bei Hofe, die die Vertreter der südlichen Baronien in den letzten fünf Generationen begangen bzw. innegehabt hatten. Und bei genauem Lesen fand sich darin auch die Erklärung, warum der Shorok den Ottersteiner hatte meucheln lassen, anstatt ihn zu maßregeln. Ein Ottersteiner Onkel zweiten Grades hatte seinerzeit den Kopf hingehalten, als der Großvater mütterlicherseits des heutigen Shorok bei einem Feldzug vor Angst zitternd hinter einem Busch gesessen und sich die blanke Furcht aus dem Leib geschissen hatte. Zugegeben, der Junge war damals erst acht Winter alt gewesen, aber trotzdem. Der Shorok schuldete den Ottersteinern etwas. Und mit diesem diskreten Mord hatte er seine Schulden beglichen.
Wo immer der Hauptmann dieses Buch her hatte, Steinfaust war sich sicher, dass es aus keiner öffentlich zugänglichen Bibliothek stammte. Blieb nur die Frage, was eigentlich die Rolle des Hauptmanns in diesem Schattenspiel war.
Zunächst aber hatte Steinfaust andere Sorgen. Zur Herbst-Tag-und-Nachtgleiche standen die Aufnahmeprüfungen der Akademie an. Er musste also dringend lernen. Der Hauptmann seinerseits dachte nicht daran, ihn zu entlasten, im Gegenteil. Er hatte anscheinend Steinfaust zu seinem persönlichen Boten erkoren. Steinfaust lernte die Stadt gründlich kennen. Jeder noch so versteckte Winkel schien Adressaten der Botschaften des Hauptmanns zu beherbergen. Warum musste er dorthin? Noch dazu stets alleine, unbewaffnet und mit einem neutralen grauen Umhang getarnt? Und warum kam kaum je einer dieser Leute seinerseits zum Hauptmann?
In Narkassia kam der Herbst nicht mit Schnee, sondern mit Regen. Das nahe Meer war schuld, hatte ihm Warg einmal erklärt. Es hielt die Luft warm und damit das Wasser flüssig bis fast zum zweiten Mond vor der Wintersonnenwende.
Warm war relativ. Wie jeden Herbst fror Steinfaust und zitterte sich abends unter der dünnen Wolldecke in den Schlaf. Der Herbst in seinen Heimatbergen war angenehmer gewesen. Kälter, gewiss, aber das war eine trockene Kälte gewesen, die sich irgendwie bedeutend angenehmer angefühlt hatte.
Vergangenheit. Daran durfte er einfach nicht denken. Steinfaust stürzte sich mit doppelter Verbissenheit auf sein Lernen. Bis zur Prüfung waren es nur noch drei Dutzend Tage. Selbst im Büro des Hauptmanns lernte er noch, wann immer er einen freien Augenblick hatte. So wie heute. Berechnungen standen an. Berechnungen über den Proviantbedarf eines Regiments während einer dreitägigen Übung. Der Wetzstein gab ein gleichmäßig singend-kratzendes Geräusch von sich, während der Hauptmann ihn an der Schneide seines Schwertes entlangzog. Der Regen trommelte stetig, fast beruhigend, auf das Dach. Keiner der beiden Männer redete.
Eine Frau trat in den Hof. Ihr Gewand leuchtete weiß durch den strömenden Regen. Eine Priesterin? Seit wann kamen Priesterinnen in die Kasernen?
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