Steinkind sackte an der Strafsäule zusammen. Dreiundsiebzig Peitschenhiebe. Er konnte froh sein, wenn er danach überhaupt noch Haut auf seinem Rücken hatte. Dann klatschte auch bereits die Peitsche herab. Nach dem vierten Schlag schrie er. Nach dem achtunddreißigsten hörte er auf zu zählen. Kurz danach verlor er jedes Zeitgefühl. Die Welt versank in Schmerz.
Warg pflegte ihn gesund. Mit kühlenden Salben und einem Tee, der scheußlich schmeckte, aber das Wundfieber zurückdrängte. Es dauerte trotzdem fast einen Mond, bis Steinkind wieder arbeiten konnte. Er tat es mit zusammengebissenen Zähnen. Das frisch vernarbte Gewebe auf seinem Rücken spannte und schmerzte.
Drei Tage später passte er Kromur in der Küche ab, als der gerade seine Mahlzeit abholen wollte. Der Mann erstarrte, als er ihn sah. Seine Nase hatte eine hässliche Delle, und als er jetzt den Mund zu einem schiefen Grinsen öffnete, sah Steinkind, dass drei Zähne fehlten. Und über seinem Grinsen zuckten seine Augen nervös.
„Eines solltest du wissen“, sagte Steinkind. „Ich bereue nichts. Und ich würde es wieder tun, wenn nötig. Selbst, wenn es mich das Leben kostet. Also überlege dir, ob du noch einmal etwas von mir stiehlst.“
Zufrieden wandte er sich ab. Kromurs Grinsen klebte zwar immer noch in dessen Gesicht, aber er war aschfahl geworden. Dieser Mann würde ihn nie wieder bestehlen. Und vermutlich auch kein anderer.
Ein Kind mit blauen Augen
Sommer 1029
Steinkind hätte sich die Mühe sparen können. In den nächsten Monden sah er nicht eine einzige noch so kleine Münze. Nach dem Vorfall mit Kromur degradierte ihn sein Herr zu den untersten Rängen. Es gab keine Einkäufe mehr für ihn, keine Gelegenheit, Gästen zu Diensten zu sein und so vielleicht einen kleinen Kupferling als Trinkgeld zu bekommen. Nur noch Putzen. Den Pferdestall ausmisten, die Hundezwinger säubern, und wenn dann noch Zeit übrig war, im Haus die Fußböden schrubben.
Heraus kam er nur noch selten.
Allerdings hatte diese Situation dennoch einen unerwarteten Vorteil. Beim Fußbodenputzen bekam er hautnah mit, was sich im Haus tat. Unter anderem war das der Unterricht des bislang einzigen Sohnes seines Herrn. Wenn er leise und langsam genug putzte, gelang es ihm sogar, die eine oder andere Stunde mitzuhören. Steinkind ließ sich nichts anmerken. Der Zorn seiner Herrin, als sie damals entdeckt hatte, dass er schreiben konnte, war ihm noch zu gut in Erinnerung. Aber selbst mit dem wenigen, was er bruchstückhaft mitbekam, gelang es ihm, mehr von dem zu lernen, was in Narkassia wichtig war: Politik, Grenzkunde, Gesellschaft und Geschichte. Mathematik und Buchführung natürlich auch, denn das waren Dinge, die ein zukünftiger Händler wissen musste. Der Sohn seines Herrn war noch jung, hatte wenig Lust zu lernen und musste den Lehrstoff des Öfteren wiederholen. Steinkind bekam alle Wissensgrundlagen, die der Hauslehrer zu bieten hatte.
Vermutlich würde er den ganzen Stoff sogar wiederholen können, denn die Herrin war erneut schwanger. Nach zwei Töchtern und einer Fehlgeburt hatten die Tempelältesten ihr für dieses Mal erneut einen Sohn prophezeit. Seitdem ging sie mit stolz durchgedrücktem Rücken und vorgestrecktem Bauch durch das Haus, und der Herr ließ ihr alle Launen durchgehen und lächelte sie wohlwollend an, bevor er zu seinen Bettsklavinnen ging.
Steinkind träumte vom Lernen. Einen einzigen Wermutstropfen hatte die Sache allerdings: Er wusste nicht, ob er dieses Wissen jemals würde anwenden können. Um Ställe auszumisten, musste man keine Landesgrenzen kennen, und Fußböden zu wischen erforderte keine mathematischen Kenntnisse.
Das Kind wurde vier Tage nach dem ersten Sommermond geboren.
Der Herr war nicht im Haus, als die Hebamme kam. Eine wichtige Sitzung der Handelsgilde. Zusammen mit den anderen Haussklaven saß Steinkind in der Küche und horchte auf die Schreie der Kreißenden, unterlegt von dem beruhigenden Zuspruch der Hebamme.
Dann schrie ein Kind, ein zunächst schwaches, dann aber schnell fordernder werdendes Greinen. Die Zofe der Herrin steckte kurz den Kopf durch die Küchentür. „Ein Sohn!“ Steinkind öffnete den Mund, wollte eine frohe Bemerkung machen – und schloss ihn wieder, als ihm auffiel, dass alle um ihn herum nach wie vor mit fast ängstlichem Blick warteten. Kurz darauf erschien der Kopf der Zofe wieder. „Er ist ansehnlich und gesund. Nur …“ Ihre Stimme brach, sie zog ihren Kopf rasch wieder zurück. Hatte die Frau geweint? Aber warum? Dieses Kind entsprach doch genau den Wünschen seines Herrn! Und warum reagierten die anderen Sklaven so merkwürdig? Steinkind wusste nicht, was er erwartet hatte. Auf jeden Fall nicht das. Diese lähmende Reglosigkeit, diese bedrückten Blicke und gesenkten Köpfe. Freute sich denn keiner hier, dass die Herrin einen gesunden Sohn geboren hatte?
Die Hebamme erschien, das Kind in ein Tuch gewickelt, und ging langsam und mit gesenktem Kopf zum Eingang. Steinkind sah ihr ratlos hinterher. Sollte das Kind nicht bei seiner Mutter bleiben? Als seine kleine Schwester geboren wurde, hatte seine Mutter darauf bestanden, den Säugling in ihrem Arm zu halten, direkt über ihrem Herzen, damit der gewohnte Rhythmus ihres Pulsschlags das Kind in dieser irritierend neuen Welt beruhigte. Wusste man das in Narkassia nicht?
Am Tor wurden Stimmen laut. Der Herr war zurück. Er klang verärgert. Harte, schnelle Schritte in der Eingangshalle. Dann Stille. Totale Stille.
Auf Zehenspitzen schlich sich Steinkind zur Küchentür, huschte den Flur entlang, bis er in die Eingangshalle sehen konnte. Da stand der Herr, reglos, mit zusammengepressten Lippen, und starrte herab auf das Kind, das die Hebamme ihm mit zitternden Armen präsentierte. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete er endlich den Mund. „Schaff mir das Balg aus den Augen! Ich werde nachher entscheiden, was ich damit mache. Wo ist meine Frau?“
„In ihrer Stube, Herr. Sie war zu geschwächt von dem Blutverlust, um Euch zu empfangen.“
Der Herr stolzierte mit harten, knallenden Schritten zur Wohnstube. Die Hebamme musste hastig zur Seite treten, sonst hätte er sie umgestoßen.
Steinkind ächzte vor Erstaunen.
Die Hebamme sah sich um, entdeckte ihn, und kam rasch, aber leise zu ihm. „Weißt du, wo die Hexen leben?“
Steinkind senkte bestätigend die Hand. „In den blau bemalten Häusern in der Flussstraße.“
Sie drückte ihm das Kind in den Arm. „Rasch, bring ihn fort. Gib ihn den Hexen. Wenn er hier bleibt, wird er sterben.“
„Aber … warum?“
„Sieh ihn dir doch an!“
Steinkind sah auf das Baby in seinen Armen. Ein ganz normaler kleiner Junge, rosige Haut, Händchen und Füßchen, an denen alles dran war, eine winzige Stupsnase, wasserblaue Augen und ein winziger Schopf schwarzer Haare mit einer einzelnen Locke.
„Seine Augen, Dummkopf! Er hat blaue Augen!“
Steinkind zögerte. Was war schlecht an blauen Augen? Über die Hälfte der Leute in seinem Dorf hatte blaue Augen gehabt. Seine Mutter auch.
„Hexenblut!“ Jetzt zischte die Hebamme fast. „Alle mit blauen Augen haben Hexenblut! Bring das Kind fort, zu seinesgleichen, bevor dein Herr auf die Idee kommt, es gleich hier vor den Augen seiner Mutter zu töten!“ Sie zog die Decke hoch, sodass das Kind unter dem Stoff verborgen war. „Beeil dich! Er kann jeden Moment zurückkommen!“
Steinkind war schon auf halbem Weg zur Flussstraße, bevor er daran dachte, dass sein Herr mit dieser Aktion vermutlich nicht einverstanden sein würde. Er krümmte sich unwillkürlich, die Erinnerung an die Peitschenhiebe war ihm sofort wieder gegenwärtig. Aber er ging weiter. Blaue Augen waren einfach kein guter Grund, um ein Kind zu töten.
Bei dem ersten der blau gekennzeichneten Häuser hielt er inne. Die Läden waren geschlossen, das Haus wirkte still und abweisend. Er traute sich nicht, dort zu klopfen, und ging weiter. Die nächsten beiden Häuser. Auch sie waren fest verschlossen. Das vierte. Hier standen endlich die Läden geöffnet, er hörte Stimmen, Frauenstimmen. Einen Moment zögerte er noch, dann klopfte er.
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