„Du darfst nicht so laut schreien.“ Warg tupfte sanft mit dem nassen Tuch über Steinkinds Schultern. Der Junge spürte, wie ein Splitter der Holzbank sich schmerzlich in seinen Oberschenkel presste, aber er traute sich nicht, sich zu rühren. Jede Bewegung schmerzte höllisch. „Unser Herr mag kein lautes Gebrüll. Meist gibt er Befehl, denjenigen, die laut brüllen, ein paar extra Hiebe zu verpassen.“
„Aber…“ Steinkind konnte die Worte kaum aus seiner wunden Kehle pressen. „Warum? Was habe ich Verbotenes gemacht?“
„Nichts Verbotenes. Nur zu wenig. Du hattest den Auftrag, die Stallboxen auszumisten. Aber es waren immer noch vier dreckige Boxen da am Abend.“
„Ich konnte es aber doch nicht schneller! Die Boxen sind tief und der Mist ganz unten war so hart …“
„Kleiner Dummkopf!“ Wargs Stimme hörte sich halb mitleidig, halb belustigt an. „Was glaubst du denn, weshalb der Mist ganz unten so hart ist? Weil ihn nie jemand herausholt! Niemand schafft das, wenn er alle Boxen bis zum Abend fertig haben will. Mach oben sauber und streu frisches Stroh drüber. Dann sieht die Box ordentlich und frisch aus, das reicht.“
„Aber …“ Steinkind verstand nicht. „Wenn der Dreck nicht ganz rauskommt, dann fault das Stroh, und die Ponys kriegen wunde Hufe.“
„Was ist dir lieber – dass die Ponys wunde Hufe kriegen oder dass du einen wunden Rücken hast?“
Steinkind schloss die Augen. Sein Rücken schmerzte, sein Puls klopfte hart in seinen Ohren, seine Handgelenke waren wund, sein Magen leer. Und dann war da immer noch der Stein.
„Dachte ich mir“, brummte Warg und erhob sich.
Beim nächsten Mal waren alle Boxen rechtzeitig fertig.
Steinkind lernte schnell. Nach kaum einem Jahr sprach er wie ein Einheimischer. Die Ponys mochten ihn und er sie. Sie waren pflegeleichter als Hornziegen. Allerdings auch dummer. Aber das war nur gut, denn so rissen sie nicht aus, und er musste sie nicht suchen gehen.
Sein Herr war in diesem Jahr nicht zu den Nordmännern gegangen, sondern hatte eine Handelsfahrt nach Süden gemacht, zum Meer. Steinkind konnte sich nichts darunter vorstellen. Ein See, der so groß war, dass man die gegenüberliegenden Ufer nicht mehr sehen konnte? Unmöglich. Und noch dazu sollte das Wasser salzig sein und ungenießbar. Aber die älteren Sklaven beharrten darauf. „Warte, bis du groß genug bist, um auf einer der großen Fahrten nützlich zu sein. Dann wirst du auch das Meer sehen.“
Wozu? Welchen Vorteil brachte es, einen Haufen Wasser zu sehen?
„Es gibt Piraten dort. Räuber, die in Booten über das Wasser kommen. Sie überfallen besonders gerne Händler, weil sie da viel Beute finden.“
Und das sollte gut sein?
„Es heißt, sie nehmen jeden Sklaven, der sich ihnen anschließen will, als freien Mann in ihre Reihen auf.“
„Ja, wenn sie ihn nicht gleich umbringen. Wenn ihnen deine Nasenspitze nicht gefällt, war’s das.“
„Aber wenn … dann bist du frei!“
„Und wenn du dann je wieder narkassianischen Boden betrittst, bist du so gut wie tot“, knurrte Warg. „Was soll der Unfug? Frei sein wird überbewertet. Hier haben wir immerhin ein Dach über dem Kopf, ein warmes Feuer im Winter und genug zu essen.“
Als er den Stall verließ, knallte er die Tür hinter sich zu.
Einer der anderen Männer, Savet, warf Steinkind einen Blick zu. „Nimm das nicht so ernst. Der ist manchmal einfach so. Er ist ein Sklave geworden, nachdem seine halbe Familie in einem besonders harten Winter verhungert ist. Hat sich selbst, seine Frau und den verbliebenen Sohn verkauft für je einen Silberling.“
„Aber Warg lebt doch alleine?“
„Der Herr hat seine Frau in sein Bett gerufen. Sie ist von ihm geschwängert worden. Bei der Geburt des Kindes starb sie. Warg hat geweint, sein Sohn hat geweint. Der Herr, der ihr Geweine nicht hören mochte, ließ sie auspeitschen. Der Junge hat das nicht überlebt.“
Steinkind fühlte einen Felsblock auf seinem Herzen. „Und dann will Warg nicht weg?“
Savet zuckte mit den Achseln. „Er ist gebrochen. Selbst wenn er sich mal freikaufen sollte, der wird nie wieder etwas anderes sein als ein Sklave.“
„Und du?“
Savet gab keine Antwort. Aber Steinkind sah, wie sich seine Fäuste kurz ballten.
Das war der Tag, an dem Steinkind den Entschluss fasste, irgendwann ein freier Mann zu werden. Der Tag, an dem er begann, sich nach Geld umzusehen. Nicht, dass ein Sklave viele Möglichkeiten hatte an Münzen zu kommen, und wenn doch, dann waren es meist nur die kleinsten der Kupferlinge. Aber sechzig Kupferlinge konnten gegen einen Silberling eingetauscht werden. Mit genügend Fleiß und Geduld … Steinkind lernte, welche Arbeiten ihm tatsächlich Münzen einbringen konnten. Von seinem Herrn bekam er nichts. Aber wenn er seine Arbeit getan hatte und danach noch woanders helfen konnte, in anderen Haushalten, bei anderen Händlern, dann gab es hin und wieder für ihn einen Kupferling. Wenn nicht, bekam er zumindest einen guten Happen zu essen und manchmal ein Bier.
Es lohnte sich auch, für die Herrin zum Markt zu gehen. Sie gab das Geld immer sorgfältig abgezählt mit. Aber manchmal, wenn man geschickt handelte und den ganzen Markt nach einem passenden Händler absuchte, konnte man die Ware etwas günstiger kriegen und von dem Wechselgeld ein wenig abzweigen. Savet hatte ihm diesen Trick gezeigt. Die Herrin fragte nicht, solange das, was Steinkind nach Hause brachte, mit ihren Berechnungen übereinstimmte. Manchmal lächelte sie ihn sogar an.
Einmal allerdings war sie sehr zornig. Ihre Auftragsliste war sehr lang geworden. Steinkind hatte sich ein Stück Holzkohle und ein flaches Scheit geschnappt und sich ein paar Notizen darauf gemacht. Die Herrin hatte ihm das Scheit aus der Hand gerissen und es ins Feuer geschleudert. Aus der Schimpftirade, die sich anschließend über ihn ergoss, lernte Steinkind zweierlei: Sklaven war es nicht gestattet, lesen und schreiben zu können. Und solche, die es dennoch lernten, landeten bei nächster Gelegenheit als Opfer im Götterfeuer. Oder sie wurden den Meerhexen verkauft.
Meerhexen! Es gab also auch hier Wesen, die Magie ausübten, und man fürchtete sie. Gewiss nicht ohne guten Grund. Steinkind zitterte sich an diesem Abend in den Schlaf. Er träumte von Steinen.
„Ich wette, es sind zwei!“
Die Stallsklaven drängten sich um den Hundezwinger. Die graugefleckte Hündin fletschte die Zähne und rutschte ein Stück zurück. Weit kam sie nicht, der Zwinger war klein und eng. Sie trat auf der Stelle, legte sich dann schützend vor eine mit Stroh aufgeschüttete Ecke.
„Höchstens eines! Letztes Mal war überhaupt keines dabei! Und ich wette sogar, das ist auch dieses Mal wieder so. Keines, ganz bestimmt!“
„Aber davor war es der halbe Wurf. Wenn sie jetzt wieder eines dabei hat, war’s das. Dann ist sie raus aus der Zucht.“
„Ja, und wir kriegen sie dann irgendwann als Festbraten, wenn sie nicht vorher bei der Bärenhatz draufgeht.“
„Und, hältst du die Wette? Schwarz gegen blau?“
„Um welchen Einsatz?“
„Ich setze zwei Kupfer.“
„Halte dagegen!“
Die Hündin winselte. In dem Stroh hinter ihr bewegte sich etwas. Dann schob sich der Welpe hervor, kletterte ungeschickt über ihren Leib und begann nach der Zitze zu suchen. Ein zweiter, folgte, ein dritter, ein vierter. Nach einigen Rangeleien fanden auch Nummer fünf, sechs und sieben ihren Platz.
„Und? Haben sie die Augen schon auf?“
Der Hundeführer kletterte in den Zwinger und griff nach einem der Welpen. Die Hündin knurrte, rührte sich aber nicht.
„Schwarz.“
Er hob den nächsten Welpen hoch. „Schwarz.“
Steinkind war irritiert. Die Welpen waren doch gescheckt, wie ihre Mutter!
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