16Wie die Beispiele bereits gezeigt haben, sind die klassisch hermeneutischen Auslegungsmethoden auch auf die Normen des Verfassungsrechts anwendbar. Allerdings stellen Verfassungsnormen regelmäßig besonders hohe Anforderungen an die Kunst der Auslegung. Dies liegt an dem grundlegenden Charakter der Verfassung, der zur Folge hat, dass ein Großteil der Verfassungsnormen Prinzipiencharakter 32aufweisen. Dies hat wiederum zur Folge, dass die Auslegungsarbeit darin besteht, angesichts eines konkreten Streitfalles aus den angesprochenen, möglicherweise gegenläufigen Prinzipien den Rechtssatz, der den Streitfall einer Lösung zuführt, überhaupt erst zu schaffen. 33Insoweit wird von einer hermeneutisch-konkretisierenden Auslegungsmethodeoder einer topisch-problemorientierten Auslegungsmethodegesprochen, je nachdem, ob die Auslegung vom Verfassungstext oder vom Problem dominiert wird. 34In jedem Fall folgt aus dem weitgehend prinzipienhaften und/oder nur Rahmen gebenden Charakter der Verfassung, dass es für das Studium des Verfassungsrechts von größter Bedeutung ist, die grundlegenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 35zu lesen, nachzuvollziehen und zu verstehen. Hierzu sind die wichtigsten Entscheidungen in den einzelnen Kapiteln nachgewiesen. Im Anhang findet sich eine Zusammenstellung.
17Angesichts der europäischen und internationalen Einbindung der Bundesrepublik Deutschland kann im Einzelfall auch eine europarechtskonformeoder völkerrechtsfreundliche Auslegungnötig sein. 36Grenze ist jedoch stets der Wortlaut. 37Darüber hinaus kann der Anwendungsvorrang des Unionsrechts eine Analogie erfordern. So überschreitet die Umwandlung von Deutschen-Grundrechten in Unionsbürger-Grundrechte zur Vermeidung eines Verstoßes gegen das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit die Möglichkeiten europarechtskonformer Auslegung. Das europarechtlich gebotene Ergebnis der Gleichbehandlung von Deutschen und nichtdeutschen Unionsbürgern muss auf anderem Wege erreicht werden. Da die allgemeine Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG als Auffanggrundrecht für eine europarechtskonforme Auslegung zur Verfügung steht, 38fehlt es an einer planwidrigen Lücke und bedarf es daher keiner Analogie. Die Erstreckung der Grundrechtsträgerschaft von inländischen juristischen Personen auf juristische Personen mit Sitz in EU-Mitgliedstaaten hat das Bundessverfassungsgericht dagegen als „Anwendungserstreckung“ bezeichnet, die durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts geboten sei. 39In der Sache handelt es sich um eine Analogie. 40
Im Wege völkerrechtsfreundlicher Auslegung interpretiert das Bundesverfassungsgericht nicht selten Grundrechte mit Blick auf die Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention. 41„Der Text der Europäischen Menschenrechtskonvention und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes.“ 42Die Grenzen dieser völkerrechtsfreundlichen Auslegung ergeben sich ebenfalls aus dem Grundgesetz. Verbindliche Wirkung für die Verfassungsauslegung kommt der EMRK nicht zu, denn sie hat innerstaatlich nur den Rang eines einfachen Gesetzes. 43
18Alle hier angesprochenen Auslegungsmethoden stehen zueinander in einem Verhältnis der gegen- und wechselseitigen Ergänzung und schließen sich nicht aus. Ein Auslegungsergebnis ist umso überzeugender, je mehr die Anwendung der verschiedenen Methoden zu demselben Ergebnis führt.
Literatur: R. Alexy , Theorie der juristischen Argumentation, 7. Aufl. 2012; E.-W. Böckenförde , Die Methoden der Verfassungsinterpretation, NJW 1976, 2089; T. Darnstädt , Die Auslegung des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht, NJW 2019, 1580; M. Herdegen , Verfassungsinterpretation als methodische Disziplin, JZ 2004, 873; T. Hofmann , Der Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung, Jura 2013, 326; U. Mager , „Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft“, JA Sonderausgabe 2006, 33; Fr. Müller/R. Christensen , Juristische Methodik, Band I – Grundlagen, Öffentliches Recht, 11. Aufl. 2013; B. Schlink , Abschied von der Dogmatik. Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, 157; Ch. Starck , Maximen der Verfassungsauslegung, in: HStR XII, 3. Aufl. 2009, § 271; A. Voßkuhle , Der Wandel der Verfassung und seine Grenzen, JuS 2019, 417; R. Zippelius , Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012.
Rechtsprechung:Zur völkerrechtsfreundlichen Auslegung BVerfGE 148, 296 – Beamtenstreik; Zur Auslegung des Grundgesetzes s. beispielhaft BVerfGE 4, 96 – Tariffähigkeit; 61, 149 – Staatshaftungsgesetz; 62, 1 – Auslegung von Art. 68 GG.
Erster Teil:Verfassungsgeschichtliche Grundlagen, Entstehungsgeschichte, Entwicklungsgeschichte
19Verfassungstexte sind Zeugnis und Ergebnis geschichtlicher Erfahrungen mit gesellschaftlicher Ordnung und Ausübung von Herrschaft. Sie bedürfen zu ihrem rechten Verständnis daher der Einordnung in die geschichtliche Entwicklung. Hier soll dennoch kein verfassungsgeschichtlicher Abriss geliefert werden. 1Im Folgenden geht es allein darum, auf die Verfassungstexte und -entwicklungen hinzuweisen, die für das Verständnis und die Auslegung des Grundgesetzes noch heute von Bedeutung sind.
1. Kapitel:Verfassungsgeschichtliche Grundlagen
20Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht in der Tradition der freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnungen der westlichen Welt, deren ideengeschichtliche Grundlagen sich in der Aufklärungund im rationalistischen Naturrechtfinden. 1
1.1Meilensteine der neuzeitlichen Verfassungsgeschichte
21Meilensteine in dieser neuzeitlichen Verfassungsgeschichte sind die Verfassung der Vereinigten Staatenvon 1787, die 1789 um Grundrechte ergänzt wurde, sowie die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechtevon 1789. Es handelt sich um die ersten Verfassungen, die auf der Idee des Gesellschaftsvertrages 2sowie der Freiheit und Gleichheit der Bürger beruhen, auch wenn letztere zunächst noch höchst unvollkommen verwirklicht war. 3Die Verfassung der Vereinigten Staaten gab darüber hinaus ein Beispiel für eine neuzeitliche bundesstaatliche Verfassung. 4
22 Menschenrechtsidee , Gewaltenteilung , Bundesstaatsprinzipund die Einrichtung eines Obersten Verfassungsgerichts, das den Vorrang des Verfassungsrechts durchsetzt, entfalteten Vorbildwirkung für die Verfassungsentwicklung in Deutschland. 5Hierbei traf die Bundesstaatsidee wie auch der Gedanke, politische Konflikte rechtsförmig zu lösen, auf vorbereiteten und damit besonders fruchtbaren Boden, denn die deutsche Geschichte ist bereits seit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation eine Geschichte des Föderalismus 6und die juristische Lösung des konfessionellen Konflikts durch den Augsburger Religionsfrieden 1555 und den Westfälischen Frieden 1648 dürfte zu den Schlüsselerfahrungen in der deutschen Geschichte zählen.
1.2Verfassung der Frankfurter Paulskirche
23Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war 1806 mit der von Napoleon erzwungenen Abdankung von Kaiser Franz II. untergegangen. Die Neuordnung Europas nach dem Sieg über Napoleon auf dem Wiener Kongress 1815 war auf Wiederherstellung überkommener Herrschaftsformen gerichtet und brachte den Angehörigen deutscher Sprache und Kultur keine neue staat(srecht)liche Einheit. Die Deutsche Bundesakte vom 8. Juni 1815 stellte einen völkerrechtlichen Vertrag dar und begründete einen Staatenbund von 39 souveränen Staaten. 7Der Bundestag als Hauptorgan mit Sitz in Frankfurt hatte keine eigenständigen Rechtssetzungsbefugnisse. 8
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