Zutreffend ist, dass Grundsätze dann nicht als Grundsätze (= Prinzipien) berührt sind, wenn sie im Regelfall Geltung haben. Diese Interpretation wird der dargelegten Funktion des Art. 79 Abs. 3 GG gerecht. Als Regelung eines außerordentlichen Einzelfalls ist es daher auch mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar, dass der mit dem Einigungsvertrag eingefügte Art. 143 GG in Abs. 3 bestimmt, dass Eingriffe in das Eigentum auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, die auf Art. 41 EinigungsV (EV) 20beruhen, nicht mehr rückgängig gemacht werden. 21Die Vorschrift schließt die Rückübertragung von Eigentum aus, das die sowjetische Besatzungsmacht zwischen 1945 und 1949 konfisziert (= entschädigungslos enteignet) hatte.
67Die Frage eines Verstoßes gegen Art. 79 Abs. 3 GG stellte sich auch, als der verfassungsändernde Gesetzgeber das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung gemäß Art. 13 GG um Schranken ergänzte, die den sog. Großen Lauschangriff, dh. das technische Abhören und Ausspähen in der Wohnung, ermöglichen. Die Beschwerdeführer, die das Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht angriffen, sahen darin eine Verletzung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und damit des Art. 79 Abs. 3 GG. Dieses Argument ist durch den Regel-Ausnahme-Ansatz nicht zu entkräften, denn die Menschenwürde verträgt keine (auch keine ausnahmsweise) Beeinträchtigung. Die tragende Mehrheit des Senats hat denn auch eine andere Argumentationsstrategie gewählt: Getragen von der Überlegung, dass dem verfassungsändernden Gesetzgeber nicht unterstellt werden kann, gegen Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen zu wollen, stellt das Gericht fest: „Die durch Verfassungsänderung eingefügten Grundrechtsschranken sind daher in systematischer Interpretation unter Rückgriff auf andere Grundrechtsnormen, insbesondere Art. 1 Abs. 1 GG, und unter Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auszulegen.“ 22Indem Art. 1 Abs. 1 GG in die Schranken des Art. 13 GG hineingelesen wird, ist ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG und damit gegen Art. 79 Abs. 3 GG ausgeschlossen. 23Grenze dieser Art der verfassungskernwahrenden Auslegungist der Wortlaut: „Die Grenzen der Auslegung von Verfassungsrecht liegen auch für eine durch Verfassungsänderung geschaffene Norm dort, wo einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Vorschrift ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm grundlegend neu bestimmt oder das normative Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt würde.“ 24In einer abweichenden Meinung haben zwei Richterinnen das Vorgehen der Senatsmehrheit, den Prüfungsmaßstab gleichzeitig als Auslegungsgrundsatz zu verwenden und damit zum ungeschriebenen Inhalt der zu prüfenden Norm zu machen, kritisiert. Normenklarheit und Bestimmtheit geböten, dass die Wahrung des Verfassungskerns aus dem Text der Norm heraus erkennbar sei. 25
Rechtsprechung:BVerfGE 30, 1 – G 10; 84, 90; 94, 12; 102, 254 – Grundsatzentscheidungen zur Bodenreform; 109, 279 – Großer Lauschangriff; 123, 267 – Vertrag von Lissabon; EGMR, NJW 2005, 2530 – Bodenreform.
Literatur: U. Hufeld , Die Verfassungsdurchbrechung, 1997; O. Lepsius , Der Große Lauschangriff vor dem BVerfG, Jura 2005, 433 und 586; G. Robbers , Die Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, Jura 1993, 69; P. Unruh , Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, 2002.
Fallbearbeitungen: J. Rozek , Der exekutive Freistaat, JuS 2008, 250 (Examensklausur).
2. Kapitel:Überblick über die Staatsstrukturbestimmungen
68Die Grundsätze des Art. 20 GG sind Bestandteil des von Art. 79 Abs. 3 GG besonders geschützten Verfassungskerns; sie geben der deutschen Verfassung ihre auch gegenüber unionsrechtlichen Einwirkungen zu bewahrende Identität. 1Nicht dazu gehört allerdings das Widerstandsrecht in Art. 20 Abs. 4 GG, nicht nur, weil diesem ohnehin die praktische Bedeutung fehlt, 2sondern weil die Vorschrift erst als Bestandteil der Notstandsverfassung 1968 Eingang in das Grundgesetz fand. Während Art. 1 GG den Kern der Rechtsbeziehungen zwischen den Individuen bzw. der Gesellschaft und der organisierten Staatlichkeit bezeichnet, enthält Art. 20 GG in seinen Absätzen 1–3 die Staatsstrukturprinzipien. Sie sind nichtzu verwechseln mitden Staatszielen 3, die weniger die staatliche Organisation prägen als staatliche Aufgaben bezeichnen. Die Abgrenzung ist allerdings nicht immer trennscharf, wie das Sozialstaatsprinzip zeigt, das sowohl zu den Staatsstrukturprinzipien als auch zu den Staatszielen zählt. Entscheidend ist, dass allein die in Art. 20 Abs. 1–3 GG niedergelegten Grundsätze gemäß Art. 79 Abs. 3 GG erhöhten Schutz genießen. Nur in Bezug auf sie sollte der Begriff der Staatsstrukturprinzipien Verwendung finden.
Prägend für die staatsrechtliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland sind danach die Staatsform der Republikund der Demokratiesowie das Sozial-und das Bundesstaatsprinzip. Dies folgt aus Art. 20 Abs. 1 GG. Art. 20 Abs. 2 GG bezeichnet mit der Volkssouveränität den Kern des Demokratieprinzips, setzt als demokratische Verfahren Wahlen und Abstimmungen fest und ergänzt die Demokratie um das rechtsstaatliche Prinzip der Gewaltenteilung. Auch Art. 20 Abs. 3 GG enthält mit der Bindung der Gesetzgebung an die Verfassung und der vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“(Gesetzesvorrang) rechtsstaatliche Aussagen.
An dieser Stelle sollen die genannten Prinzipien noch nicht in vollem Umfang entfaltet, sondern nur als Grundlage näherer Ausprägungen im folgenden Verfassungstext gezeigt werden. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Staatsstrukturprinzipien folgt am Ende des Buches 4, denn im Lichte der spezifischen Ausprägungen im Grundgesetz sind die Staatsstrukturprinzipien besser zu verstehen.
2.1Republik und Demokratie
69Mit der Bestimmung der Staatsform als Republikist die Absage an Monarchieund Diktaturverbunden. Die Verfassung schließt damit aus, dass die Funktion des Staatsoberhaupts auf Lebenszeit ausgeübt und im Wege der Erbfolge weitergegeben wird; weitergehend enthält sie die Absage an den Erwerb von staatlichen Funktionen durch Erbfolge überhaupt. Darüber hinaus lässt sich der Staatsform der Republik das Postulat entnehmen, dass die Ausübung von Staatsämtern dem Gemeinwohl zu dienen hat. 5Das Staatsstrukturprinzip findet seine Ausprägung insbesondere im V. Abschnitt des GG (Art. 54–61 GG), der vom Bundespräsidenten handelt.
70 Die Demokratieist nicht notwendig mit der Republik verbunden. Der Begriff bezeichnet eine Volksherrschaft, ist im Übrigen aber denkbar weit und umfasst die verschiedensten Typen: die plebiszitäre (unmittelbare) Demokratie, die repräsentative (mittelbare) Demokratie, die Rätedemokratie und viele mehr. 6Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG benennt als demokratische Verfahren Wahlenund Abstimmungen– erstere sind Entscheidungen über Personen, letztere Entscheidungen über Sachfragen. Die Ausprägung des Demokratieprinzips als repräsentative, parlamentarische Kanzlerdemokratieergibt sich erst und insbesondere aus Art. 38 GG, der den Abgeordnetenstatus und die Wahlrechtsgrundsätze regelt, aus Art. 63 GG (Kanzlerwahl), 67 GG (Misstrauensvotum) und 68 GG (Vertrauensfrage), die das Verhältnis zwischen Bundestag und Bundeskanzler prägen, sowie aus dem weitgehenden Fehlen von Regelungen über Abstimmungen. Solche finden sich nur in Bezug auf die Neugliederung der Bundesländer in Art. 29 GG und speziell für den süddeutschen Raum und Berlin/Brandenburg in Art. 118 und 118a GG. 7Die Ermöglichung unmittelbarer Demokratie auf Gemeindeebene in Art. 28 Abs. 1 Satz 4 GG und die Schaffung einer neuen Verfassung gemäß Art. 146 GG betreffen jeweils Sonderfälle.
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