„Hab heut später.“
„Ich weiß“, antwortet ihre Mutter. „Aber Christian ist krank, er hat Fieber. Ich hab Sanya angerufen, die hat zum Glück Zeit und kommt gleich.“
„Super“, sagt Julika und dreht sich auf die andere Seite.
„Bitte, steh auf Julika. Wenn irgendwas ist mit Christian … Bitte! Ich muss jetzt los, bin schon spät dran.“
„Der stirbt schon nicht so schnell“, murmelt Julika, aber das hört ihre Mutter nicht mehr. Denn sie ist bereits auf der Treppe, auf dem Weg nach unten und aus dem Haus.
Julika macht keine Anstalten aufzustehen. Ihre Mutter hat die Zimmertür aufgelassen, die von Christian ist mit Sicherheit auch auf; also würde sie ihn hören, wenn er was braucht.
Julika bleibt mit geschlossenen Augen liegen und versucht, sich an den Traum zu erinnern, aus dem ihre Mutter sie gerissen hat. Aber nichts da, alles weg, keine Erinnerung, kein Bild, nur ein vages Gefühl von Verunsicherung. Irgendwie war alles wirr, wackelig, unentschieden, unklar. Aber was? Worum ging es? So sehr sie auch grübelt, die Traumbilder heraufzubeschwören sucht, es bleibt eine große Leere.
Träume faszinieren Julika. Am Wochenende, wenn sie kein Wecker weckt und sie nach dem Aufwachen liegen bleiben kann, kann sie sich meistens an das erinnern, was sie geträumt hat, kann noch einen Zipfel des Traumgeschehens festhalten und dem nachspüren, was in ihrem Kopf vorgegangen ist. Sie versucht immer, sich einen Reim drauf zu machen, was ihr allerdings nur selten gelingt. Oft sind die Bilder so abstrus, die Ereignisse so eigenartig, dass Julika nicht draufkommt, was sie bedeuten könnten, was der Traum ihr sagen will, wenn er das denn überhaupt will. Denn Julika ist sich gar nicht sicher, ob Träume etwas bedeuten oder ob sie nicht einfach nur der Mülleimer der Seele sind, in den alles reingepackt wird, was einem zu schaffen macht. Dann wäre das Aufwachen die Löschtaste? Aber die Erinnerung an schlimme Erlebnisse lässt sich ja nicht so einfach auslöschen, sonst gäbe es ja keine Alpträume.
Unten klappt die Haustür. Das heißt, Sanya ist gekommen, Sanya, die Perle, die gute Seele des Hauses, jedenfalls sagt Oma das immer. Seit Julika auf der Welt ist, putzt Sanya bei der Familie Schaaf. Früher hat sie Julika und später auch Christian gehütet, wenn die Mutter arbeiten ging und der Vater auf Dienstreise war. Und wenn die Eltern abends ausgingen, hat Sanya die Kinder ins Bett gebracht und ist dageblieben, bis die Eltern zurück waren.
Julika und Christian lieben Sanya heiß und innig. Wenn sie da ist, scheint die Sonne. Sanya kann fröhlich sein wie sonst niemand, mit ihr gibt es immer was zu lachen – selbst wenn eigentlich Schimpfe angesagt wäre. Wenn die Kinder ihre Zimmer nicht aufgeräumt haben, so dass Sanya nicht richtig putzen kann, sind ihre Ermahnungen so witzig, dass sich die beiden sofort an die Arbeit machen und Besserung schwören. Wenn Christian ganz betrübt eine Vier nach Hause bringt, fragt Sanya ihn mit ernster Miene, ob es denn nicht zur Fünf gereicht hätte, und schon erhellt sich Christians Gesicht. Als die Kinder kleiner waren, nahm Sanya sie auf den Schoß, auch heute noch nimmt sie sie ganz selbstverständlich in die Arme, wenn sie Kummer haben. Sie hört ihnen immer zu, wenn sie was zu erzählen haben, und hilft ihnen suchen, wenn sie was verloren haben. „Kinderseele ist wichtiger als sauberer Fußboden“, sagt sie augenzwinkernd, wenn ihre Zeit nur noch zum Fegen und nicht mehr zum Wischen reicht. Den Unterschied sehen die Eltern sowieso nicht.
Als Julika erfuhr, dass Sanya für ihre Arbeit bezahlt wird, also auch fürs Ins-Bett-Bringen und Gute-Nacht-Geschichte erzählen, war sie erst sehr enttäuscht. Wenn Sanya das für Geld macht, dachte Julika, hat sie sie vielleicht gar nicht wirklich lieb, sondern nur bezahlt lieb. Doch den Zahn hat ihr Sanya schnell gezogen.
„Ich muss arbeiten, ich brauche das Geld zum Leben, ich habe auch zwei Kinder. Aber bin ich doch Mensch, nicht Maschine“, hat sie gesagt und Julika in den Arm genommen. Das hat Julika verstanden.
Julika hört, wie Sanya die Treppe heraufkommt, in Christians Zimmer verschwindet und leise mit ihm redet, hört das Wort Wadenwickel, Sanyas unfehlbare Fiebersenk-Methode, hört sie ins Bad gehen, die Tücher nass machen.
Wenig später steckt Sanya kurz den Kopf in Julikas Zimmer und sagt:
„Steh auf, ich mach uns Frühstück!“
Das wirkt sofort. Julika wälzt sich aus dem Bett, duscht, zieht sich an und läuft die Treppe runter in die Küche, wo der kleine Tisch schon für zwei gedeckt ist und Sanya Kaffee kocht, den starken, süßen, krümeligen Sanya-Kaffee.
„Guten Morgen, meine Schöne“ sagt Sanya und begrüßt Julika mit einem Küsschen links, einem Küsschen rechts. „Wie geht’s dir? Was ist mit Bello?“
„Der ist immer noch weg.“
Julika setzt sich an den Tisch und erzählt Sanya, dass sie mehrmals im Wald und beim Schützenhaus nach ihrem Hund gesucht hat, dass sie beim Tierarzt nachgefragt hat, dass sie Zettel mit einem Foto von Bello an die Bäume gepinnt hat, dass sie sein Foto im Internet gepostet und alle gebeten hat, es weiter zu teilen, dass sie andauernd grübelt und nach einer Erklärung sucht. Und dass ihr Bello so sehr fehlt – und nicht nur, weil sie jetzt nachts die Alarmanlage anmachen müssen.
„Weißt du, als Bello da war, hab ich mich gar nicht mehr so viel um ihn gekümmert“, sagt sie. „Er war ja da! Aber jetzt … Ich versteh das nicht!“
„Vielleicht hat jemand Bello geklaut?“, meint Sanya und schenkt den Kaffee in die kleinen Tassen.
„Meinst du?“, überlegt Julika.
Zwei Toastbrote springen aus dem Toaster, sie legt eins auf ihren, eins auf Sanyas Teller.
„Klar, ein reinrassiger Rottweiler ist schon was wert. Aber wer will Bello fangen? Der geht doch nicht einfach mit jedem mit.“
Julika schüttelt den Kopf.
„Kann ich mir nicht vorstellen. Aber ich kann ja mal checken, ob irgendwo ein Rottweiler in seinem Alter angeboten wird. Wenn, dann läuft sowas doch übers Netz, oder?“
Sanya hebt die Schultern, zieht die Augenbrauen hoch und rückt ihren Pferdeschwanz zurecht.
„Keine Ahnung.“
Sie trinkt ihren Kaffee und schmiert Marmelade auf ihren Toast. Als sie fertiggegessen und den Kaffee ausgetrunken hat, holt sie vier Orangen aus dem Kühlschrank und die Saftpresse vom Regal. Orangensaft ist für sie ein Lebenselixier, den wird sie für Christian machen, denkt Julika und fragt:
„Wie geht’s Christian?“
„Nicht gut“, sagt Sanya. „Will nicht essen. Ich bring ihm gleich Saft, trinken muss er.“
Nachdenklich fügt sie hinzu:
„Der hat was, der Junge.“
„Na klar, Grippe oder sowas!“, meint Julika.
„Vielleicht. Vielleicht aber auch anderes. Der Junge ist mehr empfindlich, als ihr denkt.“
„Meinst du, wegen Bello?“
Das kann sich Julika nun gar nicht vorstellen, dass Christian krank wird, weil Bello verschwunden ist. Dem fehlt der Hund garantiert nicht.
„Ach, was“, sagt sie. „Der hat sich einfach irgendwo angesteckt. Der hatte ja schon am Sonnabend Kopfschmerzen, da war Bello noch gar nicht weg.“
Sanya nickt, sagt aber nichts, sondern drückt Julika einen Umschlag in die Hand.
„Lag auf dem Tisch. Von deiner Mama.“
Auf dem Umschlag steht:
Julika, bitte fahr nach der Schule bei Uromi vorbei und bring Darina das Geld in dem Umschlag. Ich schaff das heute nicht .
„Okay, mach ich“, sagt Julika.
„Bleib ein bisschen bei ihnen“, sagt Sanya. „Sie sind so viel alleine.“
Julikas Uromi lebt immer noch dort, wo auch Julika früher gewohnt hat, in Kastanienhof, der Werkssiedlung auf dem Hügel. Das kleine Haus der Urgroßeltern gehört zu der Familiengeschichte, die Julika inzwischen in- und auswendig kann. Wer nicht weiß, wo er herkommt, weiß auch nicht, wo er hinsoll, pflegt ihr Opa zu sagen, der in diesem kleinen Werkshaus aufgewachsen ist.
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