„Frau Zylbersztajn, ich hab ein Thema: Frieden schaffen ohne Waffen .“
Frau Zylbersztajn nickt zustimmend und schreibt den Satz ans Whiteboard.
„Hä? Was’n das für’n Scheiß?“, poltert Dennis.
Der große, breitschultrige Junge, der auf seinem Stuhl mehr liegt als sitzt, blickt Natalie herausfordernd an.
„Bisschen differenzierter bitte, Dennis“, beschwichtigt die Lehrerin. „Kennt jemand diesen Spruch? Schon mal gehört?“
Reihum Kopfschütteln. Gelangweilte Gesichter.
„Bestimmt was Christliches!“, meint Lara. „So was wie die andere Backe hinhalten oder so?“
„Da ist was dran“, meint Frau Zylbersztajn. „Erklär doch mal, Natalie, wie du darauf kommst!“
Sie nimmt auf dem freien Stuhl neben Dennis Platz.
Natalie richtet sich auf, guckt für einen Moment auf den Boden, hebt entschlossen den Kopf, schiebt sich die hellen Haare, die sie auf der einen Seite lang, auf der anderen rappelkurz geschoren trägt, aus dem Gesicht und klemmt sie hinters Ohr. Ihre blaugrünen Augen funkeln angriffslustig.
„Also“, sagt sie. „Den Satz habe ich zufällig gefunden, bei den Sachen von meiner Oma. Die ist gestorben, im Januar. Frieden schaffen ohne Waffen war die Überschrift vom Berliner Appell von 1982, in der DDR, das war so ein Flugblatt, keine Ahnung, ob meine Oma da mitgemacht hat. Ich hab dann rausgefunden, dass der Satz eigentlich aus der westdeutschen Friedensbewegung stammt, und das war schon ein paar Jahre früher, da sind viele Leute auf die Straße gegangen wegen dem Wettrüsten und …“
Lautes Stöhnen in diversen Varianten. Unruhe.
„Echt mal, wen interessiert denn das?“
Natalie stutzt kurz, fährt dann aber unbeirrt mit etwas lauterer Stimme fort:
„Okay, lange her. Ich will auch kein Geschichtsprojekt machen. Aber trotzdem. Heute sagen alle: Frieden schaffen mit Waffen, anders geht’s nicht. Aber ich glaube, das ist falsch. Frieden und Waffen – das passt einfach nicht. Das ist wie Feuer und Wasser. Funktioniert auch nicht.“
Sie guckt sich um, als erwarte sie Beifall, erntet aber nur ungläubige Gesichter.
„Heißt das, du willst, dass Waffen abgeschafft werden?“, fragt Timo verblüfft und kippelt mit dem Stuhl nach hinten.
Natalie nickt energisch.
„Geht’s noch?“
Timo schüttelt den Kopf, sagt aber nichts weiter.
„Eh, Natalie“, ruft Patrick. „Du weißt schon, wo du lebst, oder?“
Er tippt sich mit dem Finger an die Stirn.
„Was willst du damit sagen, Patrick?“, fragt Frau Zylbersztajn, sehr gelassen, aber bestimmt.
Patrik hebt beide Hände und lässt sie auf seine Oberschenkel platschen.
„Also echt, ist doch sonnenklar!“
„Er will sagen“, übernimmt die kräftige Jennifer eifrig mit lauter Stimme, „der Ort, in dem wir leben, ist durch die Herstellung von Waffen groß geworden, und wir leben auch heute noch von der Herstellung von Waffen. Das willst du doch sagen, oder, Patrick?“
Patrick nickt. Und nicht nur er. Jennifer fährt fort:
„Und du willst sagen: Wir haben hier gerade 200 Jahre Waffenproduktion gefeiert, alle zusammen.“ Sie nimmt Natalie ins Visier: „Hast du das nicht mitgekriegt, Natalie? Das Stadtfest und alles?“
„Genau!“, sagt Patrick und grinst breit. „Wir alle leben davon – und richtig gut! Du doch auch, Natalie. Deine Eltern arbeiten im Werk. Genau wie meine.“
Natalie schluckt. Treffer. Aber bevor sie was sagen kann, ergreift wieder Dennis das Wort:
„Okay, egal. Aber Waffen sind einfach wichtig, ohne Waffen geht’s nicht. Bundeswehr und Polizei – die brauchen doch Waffen, oder?“
„Wirklich?“, meinte Natalie.
„Guck dir doch die Welt an, eh!“, sagt Dennis genervt.
„Eben! Genau deswegen!“, erwidert Natalie bestimmt. „Total im Eimer.“
Dennis richtet sich auf und reckt Natalie seinen ausgestreckten Zeigefinger entgegen:
„Klar braucht die Bundeswehr Waffen, wo lebst du denn? Und die Polizei auch. Sollen sie die vielleicht im Ausland kaufen und hier bei uns werden alle arbeitslos? Das ist doch total sinnlos!“
„Genau!“, unterstützt ihn Jennifer, deren Mutter eine Boutique in der Altstadt betreibt. „Wenn das Werk zumacht, dann sind die meisten Geschäfte und Restaurants platt, weil keiner mehr Geld verdient, das er ausgeben kann. Sollen wir hier alle auf Harz IV oder wie? Komm mal runter, Natalie.“
„Genau!“ Timo lacht verächtlich auf. „Stell dir mal vor, Natalie, da kommt so ein Terrorist und ballert rum, und die Polizei sagt höflich: ‚Bitte legen Sie die Waffe weg, können wir das nicht auch anders regeln?‘ Mensch, Natalie! Was für’n Scheiß ist das denn? Die machen uns fertig, wenn wir uns nicht wehren. Hat schon genug Tote gegeben.“
„Aber wenn die Terroristen keine Waffen hätten …“, wendet Natalie ein, aber weiter kommt sie nicht.
Alle reden durcheinander, die Stimmen überschlagen sich fast. Natalie lehnt sich enttäuscht zurück.
Frau Zylbersztajn steht auf, bittet um Ruhe und meint, man könne das Thema ja auch kontrovers diskutieren. Es müssten ja nicht alle in der Gruppe derselben Meinung sein. Sie sollten sich zu einem Thema eine Kompetenz erarbeiten, was nicht heiße, sie müssten alle dieselbe Meinung vertreten. Meinungen bilde man sich ja erst auf Grund von Fakten und Erfahrungen, und die müsse man erst mal zusammentragen – ein wichtiger Arbeitsschritt bei dem Projekt.
Achselzucken. Schweigen. Feindseliges Schweigen.
Natalie guckt trotzig im Kreis herum, bis ihr Blick an Bobi hängenbleibt. Bobi und sie haben im letzten Schuljahr einen Video-Kurs gemacht und beide sind schnell ein Team geworden – sie Ton, er Bild –, und haben richtig gut zusammengearbeitet, ohne Streit, ohne Stress. In Natalies Augen steht: Wenn hier jemand mitmacht, dann Bobi.
Nicht zu Unrecht. Bobi findet Natalies Projekt-Idee auch gut. Richtig gut. Er sieht das ähnlich wie sie. Krieg ist furchtbar, wahrscheinlich braucht man wirklich keine Waffen. Gewalt geht nicht durch Gewalt weg. Aber leider ist Bobi kein Held. Und da sich ganz eindeutig nicht genug Leute für diese Gruppe finden, muss er sich ja nicht auch noch raushängen wie Natalie und blöde Sprüche kassieren. Allein gegen alle, das hat er nicht drauf. Er senkt den Kopf. Auch wenn das feige ist, auch wenn es ihm peinlich ist, feige zu sein: Er hält sich lieber zurück.
Die Sache scheint gelaufen zu sein.
Doch plötzlich meldet sich Amal, die heute direkt neben Bobi sitzt, eine der eher Stillen der Klasse. Aber jetzt spricht sie laut und deutlich:
„Ich mache mit, Natalie. Schreiben Sie mich auf, Frau Zylbersztajn.“
Und im selben Augenblick reckt auf der anderen Seite des Klassenraums Manuel, der Streber, seinen Arm hoch, schnippst laut mit den Fingern und meint trocken:
„Bin auch dabei.“
Nicht zu fassen, durchfährt es Bobi, der Zug ist noch nicht abgefahren! Und ehe er sich versieht, hat er seinen linken Arm gehoben und kann Natalie wieder in die Augen gucken.
„Ihr spinnt doch!“, sagt Patrick und tippt sich wieder mit dem Finger an die Stirn. „Fantasten!“
Der Schulleiter genehmigt das Projekt Frieden schaffen ohne Waffen , aber nicht ohne Frau Zylbersztajn eindringlich auf ihre Verantwortung hingewiesen zu haben. Der Schulleiter fürchte, so erklärt es die Lehrerin der kleinen Gruppe, es könnten ideologische Fronten aufgebaut werden. „Wir wissen doch, aus welcher Zeit dieser Spruch stammt!“, habe er gesagt und verlangt, die Lehrerin solle unbedingt darauf achten, dass das Thema ausschließlich sachlich und unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten angegangen werde. „Bedenken Sie bitte, in welcher Stadt wir leben“, habe der Schulleiter ihr noch mit auf den Weg gegeben.
Bobi beobachtet fasziniert, wie sich die heute smaragdgrünen Steine von Frau Zylbersztajns Halskette bei jedem ihrer Worte sachte auf der braunen Haut bewegen. Genau das würde er mit der Kamera aufzeichnen, wenn er eine hätte, überlegt er.
Читать дальше