Manuel lacht laut auf:
„Verantwortung!“, sagt er. „Echt mal! Der Typ baut doch selber eine ideologische Front auf. Bedenken Sie, in welcher Stadt wir leben .“ Manuel kann die Stimme des Schulleiters fast perfekt nachahmen. „Hallo?“
„Ist doch Erpressung, oder?“, sagt Natalie. „Müssen Sie jetzt aufpassen, dass wir nichts gegen das Werk sagen?“
Frau Zylbersztajn zuckt die Achseln.
„Für mich heißt Verantwortung übernehmen, dass ich euch zur Verfügung stehe, wenn ihr mich braucht. Das heißt, ich werde euch Hilfestellung leisten, wenn nötig. Aber ich werde euch nicht reinreden. Und euch auch nicht sagen, wie ihr vorgehen müsst.“
„Okay“, sagt Manuel gedehnt.
Bobi sagt nichts. Aber er ist schwer beindruckt. Im Klartext heißt das, egal, was sie machen, sie steht hinter ihnen. Wenn Frau Zylbersztajn das wirklich so meint, ist das groß. Ob das an dem Thema liegt? Weil sie das auch so sieht?
Frau Zylbersztajn fährt fort:
„Ihr habt euch da ein Riesenthema vorgenommen. Seht zu, dass ihr es ein bisschen eingrenzt, sonst verzettelt ihr euch hoffnungslos. Möglicherweise wollt ihr auch einen persönlichen Bezug herstellen – es ist ja schließlich ein Thema, das sehr polarisiert, wie ihr ja schon in eurer Klasse bemerkt habt.“
Amal nickt nachdenklich.
„Abgesehen vom Inhalt müsst ihr natürlich eine Form finden, wie ihr eure Fakten zusammenstellt, wie ihr sie präsentiert.“
„Ich hab schon eine Idee“, sagt Natalie fröhlich und holt aus ihrer Tasche eine kleine Kamera.
„Du willst einen Film machen?“, fragt Bobi. „Geil.“
„Genau! Wozu haben wir denn den Kurs im letzten Jahr gemacht?“
„He, he, mal langsam“, sagt Manuel. „Wie soll denn das gehen? Ich hab von Film keine Ahnung. Du, Amal?“
Amal schüttelt den Kopf.
„Das macht doch nichts“, antwortet Natalie. „Also, die technischen Sachen, die können Bobi und ich. Er die Bilder, ich den Ton. Das können wir. Die Kamera hab ich mir schon vom Medienwart ausgeliehen, die Sachen für den Ton kriege ich auch. Was wir aufnehmen, das können wir doch alle zusammen überlegen und so? Oder?“
„Müssen wir das jetzt schon entscheiden?“, fragt Manuel.
„Lasst euch Zeit“, sagt Frau Zylbersztajn. „Denkt in Ruhe darüber nach. Als eine Option. Aber bevor ihr weiterdiskutiert, müssen wir noch ein paar Sachen klären.“
Es geht um Termine für Zwischenberichte, Fertigstellung, mündliche Prüfung und um die Benotung der Arbeit. Denn natürlich werden sie benotet, und zwar alle gemeinsam, und diese Note geht in die Gesamtnote von Ethik und von Geschichte ein.
„Eh, das ist aber ungerecht!“, braust Manuel auf. „Ich kann mir doch nicht von euch meinen Durchschnitt versauen lassen!“
Manuel braucht gute Noten, weil er am Ende des Schuljahrs aufs Gymnasium wechseln will.
„Wer sagt denn, dass du nicht unseren versaust?“, gibt Natalie zurück.
Manuel bläst die Backen auf und schüttelt genervt den Kopf.
„Müsst ihr eben gut zusammenarbeiten“, sagt Frau Zylbersztajn lakonisch. „Das schafft ihr schon. Übrigens“, sagt sie und steht auf. „Ihr könnt gerne den Klassenraum zum Arbeiten benutzen, nach dem Unterricht.“
Mit diesen Worten lässt sie die vier allein.
„Also, ich bleib nicht länger in der Schule als nötig“, sagt Bobi. „Hier kann ich nicht arbeiten, hier schrumpft mein Hirn. Außerdem muss ich jetzt los. Gitarrenunterricht.“
Auch die anderen wollen auf keinen Fall in der Schule arbeiten.
„Bei uns im Restaurant?“, schlägt Bobi vor. „Mit Getränken?“
„Aber im Restaurant ist es doch viel zu laut. Wie sollen wir da Aufnahmen machen?“, meint Natalie und wedelt mit der Kamera.
„Hey! Wir müssen doch erst überlegen, ob wir überhaupt einen Film machen und so“, meint Amal und zieht die Stirn kraus. „Erst mal bei Bobi, find ich gut. Und dann können wir immer noch was Ruhiges suchen.“
„Genau. Wir gehen auf den Friedhof!“, knurrt Manuel.
Sie haben sich für den frühen Abend in der Casa Acracia verabredet, dem Restaurant von Bobis Eltern am Rande der Altstadt. Die Sonne scheint, Bobi hat einen Tisch auf der Terrasse ausgesucht, der ganz außen liegt.
Als alle da sind und bei Bobi am Tisch sitzen, kommt der Kellner zu ihnen, nimmt Bobi kurz in den Arm und sagt fröhlich:
„Hallo, ich bin Xabier, Bobis Vater, seid herzlich willkommen!“
„Das ist Amal, das Manuel und das Natalie“, stellt Bobi die kleine Gruppe vor.
„Schön, dass ihr hier seid, ihr seid heute unsere Gäste“, erwidert Xabier lächelnd, streicht sich seine wilden Wuschellocken aus der Stirn und nimmt ihre Bestellungen entgegen. Kurz darauf serviert er die Getränke.
„Heißt das was, Casa Acracia“, fragt Amal und zeigt auf das Schild über dem Eingang.
„Casa – mit scharfem s! – ist Spanisch und heißt Haus, und Acracia ist der Vorname von meiner Oma, meine Großeltern haben das Restaurant aufgemacht, irgendwann vor vierzig Jahren oder so.
„Bedeutet Acracia was?“
„Ja, sowas wie: ohne Herrschaft, ohne Macht.“
„Echt? Wer gibt denn seinem Kind so einen Namen?“, fragt Manuel.
Bobi zuckt die Achseln.
„Die Eltern, nehme ich mal an. Die waren Anarchisten, hat mir meine Oma erzählt. Haben gegen Franco gekämpft.“
„Anarchisten?“
Manuel bekommt runde Augen.
„So Bombenleger und so?“
Xabier, der ein Schälchen mit Erdnüssen und eines mit Oliven an den Tisch bringt, guckt Manuel an, grinst und sagt:
„Ach, Quatsch! Anarchisten sind Leute, die keine Regierung wollen, keinen Staat, keine Macht, alle Menschen sollen selber bestimmen. Weiter nix. Willst du doch auch, selber bestimmen, oder?“
„Schon“, brummt Manuel. „Aber wenn das nun jeder machen würde?“
„Eben, genau darum geht’s“, lächelt Xabier, legt ihm kurz die Hand auf die Schulter und läuft nach drinnen, weil die Küche klingelt.
Manuel guckt ihm mit großen Augen hinterher.
Amal sagt:
„Krasse Idee. Muss ich mir mal durch den Kopf gehen lassen.“
„Sowas macht Xabier gerne“, sagt Bobi. „Wirft einem solche Brocken hin und sagt dann: Denk mal drüber nach.“
„Nice“, sagt Amal und nickt.
„Aber jetzt nicht, jetzt wollen wir über das Projekt reden!“, sagt Natalie und guckt dabei so tatendurstig, als wollte sie einen Spatz in der Regenrinne vor dem Ertrinken retten. Als Erstes möchte sie klären, ob sie nun einen Film machen oder nicht. Manuel sperrt sich, bringt als Alternative Powerpoint ins Spiel, aber da verdrehen die anderen drei sofort die Augen. Powerpoint sei total abgerockt, gehe gar nicht. Weil niemandem was Besseres einfällt, bleibt es erst mal beim Film. Manuel besteht aber darauf, trotzdem Daten und Fakten schriftlich zu sammeln, er will eine Dropbox oder eine Cloud oder sowas einrichten.
„Okay. Und lasst uns ´ne Gruppe einrichten“, sagt Amal.
„Genau“, sagt Manuel und zückt sein Handy. „Ich weiß sogar schon einen Namen!“
„Und?“, fragt Bobi.
„Fantasten!“
„Wieso das denn?“, fragt Natalie irritiert.
„Na, wegen Patrick“, sagt Amal lächelnd. „Nice.“
„Das klingt blöd!“, sagt Natalie. „Wir meinen das doch ernst, oder?“
„Eben“, sagt Amal. „Genau deswegen.“
„Cool“, sagt Bobi. „Aber … wir haben doch auch Mädchen dabei!“
„Genau!“
Amal grinst.
„Sag ich doch! Wir sind doch gar keine Fantasten! Bloß in Patricks Augen. Ist sozusagen ein Zitat.“
Natalie blickt sie verwundert an, sagt aber nichts mehr.
Ein paarmal Tippen, und alle sind miteinander verbunden.
Jetzt endlich kommt Natalie dazu, auf den Tisch zu packen, was sie schon die ganze Zeit vorschlagen will. Sie möchte, dass sie als Erstes Interviews mit sich selbst machen.
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