„Vor der Kamera. Warum wir bei dem Projekt mitmachen, wer wir sind und so. Ich meine, wir kennen uns doch gar nicht richtig und so.“
„Wie jetzt?“, fragt Bobi erstaunt und nimmt einen Schluck von seiner Apfelschorle. „Geht’s jetzt um uns oder um Frieden und so?“
Für das Projekt müssten sie in jedem Fall Interviews machen, meint Natalie, da sei es doch gut, wenn sie das schon mal ausprobiert hätten. Also warum nicht erst mal bei sich selbst anfangen?
Skeptische Blicke.
„Guckt mal, das ist sozusagen ins Unreine“, sagt Natalie beschwörend. „So eine Art Selbstvergewisserung. Äh, sagen wir ein gespiegeltes Selfie.“
„Geht’s noch komplizierter?“, meint Manuel. „Also, du willst, dass wir uns vorstellen, also du zum Beispiel sagst vor der Kamera, wer du bist, wovon du nachts träumst, in wen du verliebt bist, und warum du das Projekt machst. So, ja?“
Natalie holt tief Luft, zieht die Augenbrauen hoch, antwortet aber nicht. Manuel grinst, dann fügt er hinzu:
„Okay, warum nicht. Kann lustig werden. Bin dabei.“
Amal hebt den Daumen, Bobi auch.
„Aber es müssen alle ehrlich sein“, sagt Amal. „Sonst mach ich nicht mit. Ich hab keinen Bock auf fake storys.“
Manuel zieht sein „Okay …“ kaugummilang, Bobi nickt eifrig und Natalie meint, sonst habe das alles ja keinen Sinn.
„Ich meine, ihr habt doch gehört, wie die anderen drauf sind.“
Das Telefon des Restaurants klingelt laut in ihr Gespräch. Xabier verschwindet hinter der Bar.
Gleichzeitig betritt eine größere Gruppe die Terrasse, Leute vom Chor Liederreigen , die nach dem Singen gemeinsam Essen gehen. Xabier kommt herausgeeilt, macht sich sofort daran, Tische zusammenzustellen und ruft dabei seinem Sohn zu:
„Bobi, te necesito. María llamó, está enferma, y hay un montón de trabajo.“
„Na toll“, erwidert Bobi und zieht ein Gesicht. „Und jeder kann machen, was er will, ja?”
„Venga, es otra cosa y tu lo sabes.”
Xabiers Ton lässt keinen Zweifel offen.
„Was ist denn los?”, fragt Natalie.
„Sorry, die Party ist zu Ende. Ihr müsst ohne mich weitermachen. Die Frau, die hinterm Tresen arbeitet, ist krank, ich muss einspringen; ihr seht ja, was los ist. Scheiße, aber was soll ich machen?“
Xabier verteilt Speisekarten an die neuen Gäste und nimmt die Getränke auf. Bobi geht hinter die Bar, Bier zapfen, Mineralwasser eingießen, Radler oder Schorle mischen, Weinflaschen aufmachen, Gläser spülen, Gläser spülen, Gläser spülen und Cafecitos zubereiten. Die meisten Gäste bestellen allerdings Espresso. Spanier oder Italiener, wer will das schon so genau wissen.
Kurz darauf beenden Natalie, Manuel und Amal das Treffen und brechen auf. Amal kommt zum Tresen und informiert Bobi:
„Wir treffen uns übermorgen um die gleiche Zeit im Schrebergarten von Natalies Eltern, in der Kolonie Unsere Scholle, und machen erst mal die Interviews mit uns, okay?“
Er nickt und überlegt krampfhaft, was er sagen könnte, damit sie noch ein bisschen bleibt. Aber da hat sie schon „Tschüs, bis morgen!“ gesagt, und weg ist sie. Enttäuscht blickt er ihr hinterher.
Er hätte gerne mit ihr und den anderen noch länger darüber gesprochen, wie so ein Film aussehen könnte. Superidee von Natalie. Im Video-Kurs im vorigen Schuljahr hat Bobi gemerkt, dass Kamera genau sein Ding ist. Er kann sich hinter die Linse zurückziehen, kann Distanz zwischen sich und die Dinge bringen, bleibt Beobachter, ist selber aus dem Focus. Die Kamera ermöglicht ihm einen anderen Blick, er sieht alles klarer und genauer, und zudem kann er den Moment festhalten. Nur die Montage hinterher ist nicht so leicht. Dazu braucht man ein gutes Programm. Zum Glück gibt es in der Schule eins, und da sie ein Schulprojekt machen, werden sie das sicher benutzen können. Und auf YouTube gibt es jede Menge gute Anleitungen.
Xabier schleppt immer neue Gläser heran. Aber das macht Bobi nichts. Gläserspülen hat für ihn etwas sehr Beruhigendes. Seine Handbewegungen laufen automatisch, er spült immer zwei Gläser auf einmal. Lippenstift und Fettspuren entdeckt er sicher. Bei ihm geht kein schmutziges Glas raus. Auch das Abarbeiten von Xabiers Zetteln, Getränke fertigmachen und aufs Tablett stellen, funktioniert längst reibungslos. Bobi hat ein eigenes System entwickelt, ohne überflüssige Bewegungen oder doppelte Wege. Er ist fast schon so schnell wie Xabier.
Die Gruppe draußen auf der Terrasse wird lauter. Je mehr Alkohol die Leute trinken, desto lebendiger werden sie. Längst sind auch die anderen Tische besetzt. Xabier rennt hin und her, schleppt Wein und Bier und Essen und Kaffee. Trotzdem bleibt er mal hier und mal da stehen und redet mit den Leuten. Bis jemand was bestellen oder bezahlen will oder die Küche klingelt und er nach hinten laufen muss.
Ein paar Stunden Hektik, dann wird es ruhiger. Nach und nach brechen die Gäste auf. Vom Liederreigen sind noch zwei Leute dageblieben, eine Frau in Xabiers Alter und ein Mann, der jünger ist als sie. Sie sitzen sich still gegenüber und nippen immer mal wieder versonnen am Wein. Sie wissen nicht, dass Bobi vom Tresen aus unter ihren Tisch gucken kann. Und da geht es wesentlich lebhafter zu. Ihre Beine sprechen miteinander, sehr, sehr angeregt. Jetzt eine Kamera, denkt Bobi.
Die beiden trinken aus, zahlen und stehen auf. Küsschen links, Küsschen rechts, mit Abstand. Sie geht in die eine, er in die andere Richtung.
„Kennst du die?“, fragt Bobi Xabier.
„Der Typ“, sagt er, „ist öfter hier. Kommt aus München.“
„Und die Frau?“
„Gehört zum Chor, mehr weiß ich nicht.“
„Haben die beiden was?“
Xabier lacht.
„Seguro! Und sie ist bestimmt verheiratet.“
„Warum macht die sowas?“
„Was weiß ich! Da gibt’s tausend Gründe. Und der Typ sieht doch sympathisch aus – jung, fit, lebendig!“
„Krass verlogen, oder?“
„Klar. Könnte natürlich auch anders sein: Sie liebt zwei Männer, und beide finden das okay.“
„Echt mal?“
„Warum nicht? Wenn alle einverstanden sind? Hier, das sind die letzten Gläser.“
Bobi hat keine Ahnung, wie er das finden soll. In jedem Fall ist das, was er hier gesehen hat, eindeutig heimlich. Also sind nicht alle einverstanden.
„Wenn du den Mann von der kennen würdest, würdest du dem das sagen mit dem Lover?“, fragt er seinen Vater und stülpt das letzte Bierglas ins Spülbecken.
„Wenn er mein Freund wäre, würde ich mit der Frau sprechen. Dass die’s ihm sagt, glaube ich. Ihm das sagen? Nee, würde ich nicht.“
Ist das feige?, überlegt Bobi. Oder Freundschaft?
Die beiden putzen die Bar, stellen die Stühle hoch, rücken die Tische auf der Terrasse zusammen. Inzwischen sind auch Naira und Uwe mit der Küche fertig. Sie können abschließen.
Xabier und Bobi haben keinen weiten Heimweg, sie wohnen direkt über dem Restaurant.
Bobi würde Xabier gerne fragen, wie das mit ihm und Sofia und der Liebe ist. Aber da sind sie schon an der Wohnungstür. Er ist müde und Xabier auch. Und irgendwie kann sich Bobi überhaupt nicht vorstellen, dass Xabier heimlich eine Freundin haben könnte oder Sofia einen Freund. Im Leben nicht.
Julika schläft. Die Sonne scheint durchs offene Fenster in ihr Zimmer, doch Julikas Bett steht im Schatten, denn Julika schläft gerne und lange. Und abends bleibt sie ebenso gerne lange auf und liest, bis ihr die Augen zufallen.
Obwohl Julika heute erst zur dritten Stunde muss und das abends auch laut verkündet hat, wird sie schon um sieben von ihrer Mutter geweckt, erst vorsichtig, dann energisch, weil Julika sich nicht gleich rührt. Endlich macht sie die Augen auf, guckt auf den Wecker, schließt die Augen sofort wieder und brummt:
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