„Na ja. Und das mit dem Projekt, also ich … ich bin wegen Krieg hier. Meine Eltern kommen aus Jugoslawien, also so hieß das früher, das gibt‘s ja nicht mehr. Meine Mama ist Bosniakerin, mein Papa Serbe, die Familie von meiner Mama muslimisch, die von meinem Papa serbisch-orthodox. War aber meinen Eltern egal, denn die sind nicht religiös, beide nicht, die waren nie in der Moschee oder in der Kirche, mein Papa ist nicht mal getauft. Aber dann kam der Krieg und Jugoslawien ging kaputt, oder Jugoslawien ging kaputt und der Krieg kam, keine Ahnung, jedenfalls war’s auf einmal wichtig, wer Serbe war oder Bosniake oder Kroate oder Muslim oder orthodox oder katholisch oder was weiß ich.“
Sie schiebt die Hände unter die Beine und guckt auf den Boden, so dass ihr Gesicht nicht mehr zu sehen ist. Bobi will gerade mit den Fingern schnipsen, da blickt sie schon wieder hoch und redet weiter. Jetzt sehr ernst. Ihre dunklen Augen schimmern. Ihre Stimme wird leiser, Natalie verstellt was an ihrem Aufnahmegerät.
„Alles wurde anders. Viel weiß ich nicht, weil … meine Eltern reden nicht darüber. Papa wollte nicht Soldat sein, wollte nicht auf seine Verwandten und Freunde schießen, bloß weil die auf einmal Feinde sein sollten. Er ist erst untergetaucht und dann abgehauen, nach Deutschland, zu Verwandten. Hat Asyl gekriegt, war aber schwer. Mama war schwanger mit meinem Bruder und ist später nachgekommen, mit dem Baby, das muss schlimm gewesen sein, aber auch sie redet nicht. Wenn ich sie frage, lacht sie und nimmt mich in die Arme und sagt: ‚Das ist vorbei, Kind, wir leben, und wir leben gut, und wir haben noch dich dazubekommen, mein Herzblatt, was wollen wir mehr?‘ Aber ich weiß, dass hinter ihrem Lachen eine Trauer wohnt. Ihr Papa ist getötet worden, damals, und ihr Bruder auch. Viele sind erschossen worden, ganz viele. Zum Glück lebt ihre Mama noch, und wir können sie in den Ferien besuchen, im Dorf. Jetzt ist ja kein Krieg mehr.“
Sie atmet einmal tief durch. Niemand sagt etwas. Das müssen sie erst mal verdauen. In der Schule hat Amal noch nie darüber gesprochen. Bobi stellt fest, dass er eigentlich sehr wenig von den anderen weiß. Dabei hocken sie jeden Tag viele Stunden im selben Raum, seit Jahren schon. Merkwürdig.
Natalie hebt die Hand, hält sich das Mikro vors Gesicht und fragt:
„Erzählt deine Oma dir was?“
„Ja, aber nur von früher, von vor dem Krieg. Vom Krieg selber nicht. Sie sagt, das will ich gar nicht hören. Und sie will es vergessen.“
„Ist vielleicht besser“, murmelt Manuel und steckt sich eine neue Zigarette an.
„Ich weiß nicht“, meint Amal. „Wenn alle immer schweigen, ändert sich doch nix. Dann fängt alles immer wieder von vorne an.“
Sie zieht die Stirn kraus.
„Jedenfalls will ich deswegen bei dem Projekt mitmachen. Wenn die Waffen nicht gewesen wären, wäre das vielleicht alles nicht passiert, oder? Das will ich rauskriegen. So, das reicht – wer will jetzt?“
Sie steht vom Stuhl auf, nimmt sich einen Apfel vom Tisch und schnuppert daran, bevor sie reinbeißt. Das Apfelgrün passt gut zu ihrem Gesicht, stellt Bobi fest.
„Schön“, sagt Natalie und drehte an ihren Knöpfen. „Manuel? Du jetzt? Oder du, Bobi?“
„Okay, ich probier’s“, sagt Manuel.
Er pflanzt sich auf den Stuhl, legt den Kopf zur Seite, wirft die Haare aus dem Gesicht, räuspert sich dreimal, lässt alle Finger einzeln knacken, schlägt ein Bein übers andere, lässt sich im Stuhl so tief runterrutschen, dass sein Gesicht aus dem Display zu verschwinden droht. Aber dann kriegt er sich ein, stellt die Füße nebeneinander, richtet sich auf, guckt in die Kamera und legt los:
„Ich heiße Manuel, bin sechzehn Jahre alt, gehe in die zehnte Klasse Realschule. Schule find ich blöd, aber ohne Abitur kann man nix werden, das hab ich jetzt kapiert, und deswegen will ich‘s aufs Gymnasium schaffen.“
Er kneift die Augen zusammen.
„Auch wenn alle ‚Streber‘ sagen. Is mir egal. Ich will Tierarzt werden. Erstens, weil ich das mag, so mit Tieren was machen. Ich finde das total geil, wenn ich es schaffe, einem Riesenköter einen Dorn aus der Pfote zu pulen, und der frisst mich nicht auf.“
Er grinst. Seine anfängliche Scheu ist verflogen.
„Hab ich neulich gemacht. Echt, das war voll geil! Meine Mutter, die arbeitet beim Tierarzt als Sprechstundenhilfe, und ich jobbe da manchmal, Moped abstottern. Ich möchte alles machen, was der Tierarzt macht, also operieren und so, das stelle ich mir total cool vor. Und zweitens: Ich will später mehr haben als die paar Mäuse, die meine Mutter verdient – also, verdient, das ist echt ein blödes Wort, verdient hat sie bestimmt mehr. Ihr Lohn reicht gerade so für sie und mich, kleine Wohnung, kleines Auto, kleines Leben. Ihr Chef aber, der streicht jede Menge Kohle ein, großes Auto, großes Haus, Karibikurlaub. Ihr glaubt gar nicht, wie viel Geld die Leute für Haustiere ausgeben. Ich will Kohle machen. Glasklare Sache. Ja.“
Er räuspert sich.
„Und dein Vater?“, fragt Natalie.
„Äh, mein Vater?“
Manuel streicht sich die Haare aus dem Gesicht.
„Na ja, was soll ich sagen. Ich hab keinen.“
Er lacht auf.
„Mich hat der Storch gebracht, hat mir meine Oma immer erzählt. Weil meine Mutter so gerne einen kleinen Jungen wollte und sich extra einen mit himmelblauen Augen bestellt hat.“
Doofe Geschichte, denkt Bobi. Totale Verarsche.
„Also, keine Ahnung, wer mein Vater ist. Aber ich brauche keinen, ich versteh mich echt gut mit meiner Mutter. Die lässt mich machen und stresst überhaupt nicht. Da muss ich sie nicht mit blöden Fragen stressen.“
Er blickt Natalie scharf an.
„Okay, sorry“, sagt Natalie und hebt eine Hand.
„Na ja, und was das Thema betrifft. Ich denk darüber nach, warum Leute andere erschießen, aber jetzt nicht im Krieg, sondern im Frieden. Polizisten, Gangs, Amokschützen, sowas. Weil, mein Cousin, in dem seiner Schule war so’n Amokschütze gewesen, und mein Cousin, der hat das alles voll mitgekriegt, 14 war der da. Voll krass, was der mir erzählt hat, echt voll krass.“
Er macht eine Pause und fügt dann hinzu:
„Ey, dem sein bester Freund ist erschossen worden, einfach so, weil dieser Arsch die Knarre von seinem Papa klauen konnte. Das geht doch gar nicht! Mein Cousin, der war zwar nicht verletzt, also am Körper, aber den lässt das nicht mehr los, auch wenn’s schon lange her ist. Er hat immer noch Alpträume. Bloß weil der Typ so ´ne Scheißknarre hatte.“
Er schweigt, kneift die Lippen zusammen und macht kurz die Augen zu.
„Eh, der kann noch nicht mal einen Film sehen, in dem geschossen wird. Kriegt er Panikattacken!“, sagt er dann noch.
Die anderen rühren sich nicht. So was erlebt haben sie noch nicht, aber an ihrer Schule gibt es in regelmäßigen Abständen Amokalarm – als Übung. Mit Sirene und in Deckung gehen und allem, was dazugehört. Gruselig. Weil’s so unwirklich ist, und gleichzeitig irgendwie nah dran. Passiert ja auch in echt.
Nach einem Moment steht Manuel auf, winkt Natalie zu und sagt wieder so locker wie sonst:
„Jetzt du. Ich nehm deine Angel und fisch dir die Worte aus dem Mund.“
Natalie lächelt und drückt ihm den Stab in die Hand, zeigt ihm, wie er ihn halten soll, und hängt ihm das Aufnahmegerät um.
Dann nimmt sie auf dem Stuhl Platz. Schlägt die Beine übereinander, winkelt die Arme an, faltet die Hände im Schoß. Lange, feine Finger. Die blonden Haare frisch gestylt, bürstenkurz auf der einen Seite, schulterlang auf der anderen. Das Gesicht rosa-rosig, die Nase platt, als hätte einer mit dem Finger draufgedrückt. Sie schminkt sich nicht, dennoch sind ihre Lippen knallrot.
„Ich heiße Natalie, bin sechzehn Jahre alt und gehe in die zehnte Klasse Realschule. Meine Eltern haben in der DDR gelebt, in Thüringen, aber nach der Wende hat ihr Betrieb dichtgemacht. Arbeit futsch, alles futsch. Da haben sie rübergemacht, hierher. Hier im Werk gab’s Arbeit, meine Mutti hat in der Kantine angefangen, mein Vati als Lagerarbeiter. Vati ist inzwischen Pförtner, Mutti schafft immer noch in der Kantine.“
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