Sie legt den Kopf in den Nacken und streicht sich mit der Hand über den Hals, bevor sie fortfährt:
„Irgendwie stimmt das schon, was Patrick gesagt hat. Ich meine, dass wir hier alle von der Waffenherstellung leben, ich doch auch. Und nicht schlecht. Das hatte ich so noch gar nicht gesehen.“
Sie guckt direkt in die Kamera.
„Muss ich drüber nachdenken. Ja.“
Und schweigt.
Bobi schwenkt die Kamera zu Amal, weil sie so angespannt guckt, und fängt ein gedankenverlorenes Nicken ein.
Manuel sagt:
„Später. Mach erst mal weiter.“
Bobi richtet die Kamera wieder auf Natalie.
„Äh, ja. Also. Ich habe eine große Schwester, die lebt in Stuttgart und arbeitet als Erzieherin. Sie hat ein Kind gekriegt, und dann hat sie gesagt, na, dann kann sie ja gleich lernen, wie das geht. Finde ich gut, aber ich will erst mal keine Kinder, ich will eine Ausbildung als Gärtnerin machen oder auf einem Bio-Bauernhof Landwirtschaft lernen, irgend sowas, ich will auf alle Fälle was mit Natur machen und draußen arbeiten. Und das Projekt will ich nicht nur wegen Krieg machen, das auch, klar, aber das mit der Natur finde ich auch wichtig. Ich finde, die Menschen haben nicht das Recht, die Umwelt zu zerstören, nur damit sie bequemer leben können und immer reicher werden. Ich finde, Tiere und Pflanzen haben auch ein Recht zu leben. Ich möchte im Einklang mit der Natur sein.“
Amal hebt die Hand, und Manuel schwenkt die Angel zu ihr.
„Okay, verstehe ich“, sagt sie. „Aber was hat das mit Frieden schaffen ohne Waffen zu tun?“
Natalie legt die Finger übereinander, so dass sie ein Zelt bilden, und drückt sie gegeneinander.
„Also, ich finde, Frieden und Waffen, das ist ein totaler Widerspruch. Und als ich den Satz Frieden schaffen ohne Waffen gelesen hab, dachte ich, genau das ist es, so muss das sein, Waffen müssen weg. Meine Schwester sagt immer, man kann nicht Kinder schlagen, damit sie anständige Menschen werden. Ist doch richtig, oder?“
Sie hält einen Moment inne, blickt allen ins Gesicht, als erwarte sie Zustimmung. Und es nicken auch alle, selbst Bobi hinter der Kamera. Sie fährt fort:
„Und ja, mit der Natur, da ist das auch so. Wenn man die schützen will, darf man das nicht mit Gewalt tun. Ich will Frieden mit der Natur. Und keinen Krieg. Aber genau das machen Jäger mit ihren Waffen.“
Ihre blaugrünen Augen blitzen zornig, sie gerät immer mehr in Fahrt, spricht schnell und hektisch.
„Ich glaub, Jäger sind sowas wie Soldaten. Ich hab mir mal eine Website für Jagdwaffen angeguckt, und da sieht man ganz genau, dass Jagd irgendwie dasselbe ist wie Krieg: Jäger wollen den Feind – sie sagen, das Wild – aufspüren, töten; sie wollen sich beweisen, stärker sein, Herr über Leben und Tod sein – so was eben. Müsst ihr mal gucken. Widerlich ist das, so … so … großkotzig! Also ich bin gegen Krieg, gegen die Jagd, ich bin gegen Waffen. Ich finde, das hängt irgendwie zusammen. Krieg abschaffen ist schwer. Aber vielleicht kann man ja mit der Jagd anfangen? Keine Ahnung, wie man das durchsetzen kann. Da hängt so viel dran. Ist echt ein Riesending.“
Sie legt die Hände an die Wangen, die sich rot gefärbt haben, und guckt für einen Moment ganz verloren. Dann steht sie auf, nimmt Manuel die Angel ab und nickt Bobi zu. Er ist dran.
Schon puckert sein Herz wie wild, und er bekommt Schwitzefinger. Hinter der Kamera ist deutlich entspannter als vor der Kamera, schießt ihm durch den Kopf. Jetzt chill mal, sagt er sich, hören dir doch nur drei Leute aus deiner Klasse zu, und die haben gerade selber was erzählt. Er holt tief Luft, guckt noch mal aufs Display der Kamera, prüft, ob sie richtig ausgerichtet ist, drückt auf den Auslöser und setzt sich auf den Stuhl.
Bobi ist nicht besonders groß und ziemlich dünn, er selbst findet sich ein bisschen mickrig. Er hat dunkle Augen, eine unauffällige Nase, zwei kleine Pickel direkt daneben, seine Haut ist eher blass, das Haar dunkelbraun, lockig und so fest, dass seine Mutter Drahtwolle dazu sagt. Zu Bobis großem Bedauern hat er diese Wolle nicht nur auf dem Kopf, sondern fast überall auf dem Körper. Im Gesicht, auf der Brust, den Beinen, den Armen, auf dem Rücken, sogar auf dem Po. Seit ihm diese Haare mit zwölf, dreizehn gewachsen sind, hadert er damit. Er wollte sich das Zeug abrasieren, aber Xabier hat ihm dringend davon abgeraten:
„Mach das bloß nicht! Dann kriegst du überall Stoppeln! Gewöhn dich dran, es gibt Schlimmeres.“
Als Bobi vor der Kamera sitzt, versteht er sofort, warum Manuel erst gar nichts rausgebracht hat. Wahrscheinlich war dem auch einfach die Spucke weggeblieben so wie ihm jetzt. Sein Mund ist wie ausgetrocknet. Bobi schluckt, fährt mit der Zunge über die Lippen, zappelt wie früher in der Schule, wenn er sich nicht konzentrieren konnte. Dann fällt sein Blick auf Amal. Die lächelt ihn so aufmunternd an, dass er denkt, okay, ihr erzähl ich das. Und auf einmal ist die Spucke wieder da, und die Beine halten still.
„Also, ich bin Bobi. Eigentlich heiße ich Borislav, aber da, wo meine Eltern mich geholt haben, haben alle Bobi zu mir gesagt, und dabei ist es dann …“
„Wie, deine Eltern haben dich geholt?“, fragt Amal, ohne den Finger gehoben zu haben. „Hat dich auch der Storch gebracht?“
In ihrer Wange kringelt sich das Grübchen wie ein kleiner Strudel.
„Nö, das nicht. Aber meine Eltern haben mich adoptiert, als ich vier war. Aus einem Kinderheim in Bulgarien. Weil sie selber keine Kinder kriegen konnten. Im Waisenheim haben sie uns immer gesagt, eines Tages kommen eure Eltern und holen euch. Und für mich waren das dann Sofia und Xabier.“
„Wie – dann bist du Bulgare? Hast du bulgarisch gesprochen? Kannst du das immer noch?“, fragt Manuel erstaunt.
„Ach was. Ich bin Bobi, weiter nix. Bulgarisch hab ich vergessen, Sofia und Xabier haben Spanisch mit mir gesprochen, im Kindergarten hab ich Deutsch gelernt.“
„Weißt du was von deinen richtigen Eltern?“, fragt Manuel.
Er hat schon zum zweiten Mal den Finger nicht gehoben, und Natalie kommt mit dem Schwenken kaum hinterher.
„Ich weiß nix mehr, kann mich auch nicht mehr an das Heim erinnern. Ich bin total happy mit Xabier und Sofia.“
„Aber du hast doch zwei kleine Geschwister, oder?“, fragt Amal nach. „Haben deine Eltern doch noch Kinder gekriegt?“
„Nö, das sind Pflegekinder. Der Vater von Maja und Kevin sitzt im Knast, ihre Mutter ist völlig verpeilt. Kevin war erst in einer anderen Pflegefamilie, dann wollte er unbedingt zu uns.“
„Und, wie ist das für dich?“, fragt Amal.
„Ey, jetzt hör doch mal auf. Die Kleinen sind okay. Ich bin ihr großer Bruder, und gut“, fährt es aus Bobi heraus.
Amal schaut ihn sichtlich getroffen an, und Bobi ärgert sich sofort, dass er sie so angemacht hat.
„Äh, sorry. Kann ich jetzt weitermachen?“, schiebt er hinterher.
Niemand sagt etwas. Also macht er einfach weiter.
„Ich bin Bobi, bin siebzehn Jahre alt und gehe in die zehnte Klasse Realschule. Ich weiß noch nicht, was ich nach der Schule mache, vielleicht gehe ich nach Spanien. Keine Ahnung. Ich will nicht gleich wieder in so eine Anstalt wie Schule oder Betrieb oder so was.“
Manuel hebt die Hand:
„Und wovon willst du leben? Zahlen dir deine Eltern das?“
„Keine Ahnung. In Spanien hab ich Freunde, und da sind meine Großeltern. Mann, ich bin erst siebzehn, und da soll ich mich schon auf irgendeine Zukunft festlegen? Nö, mach ich nicht.“
Bobi zögert einen Moment, überlegt, ob er das wirklich sagen soll, aber dann denkt er, was soll’s, die anderen sind ja auch ehrlich gewesen.
„Eigentlich würde ich gerne Filme machen. Dokumentarfilme. Keine Ahnung, ob das geht, aber das würde ich wirklich gerne machen. Später mal.“
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