Der Missbrauchsskandal hat Kirche wie Gesellschaft neu dafür sensibilisiert, wie sehr asymmetrische Beziehungen anfällig sind für missbräuchliches Verhalten. Viele Situationen der Seelsorge weisen ein Machtgefälle auf und erfordern bei den Verantwortlichen eine besondere Sorgfaltspflicht. Mit Hilfe von Verhaltenskodizes wird im Sinne der Prävention ein Rahmen abgesteckt, der angemessene Verhaltensweisen normiert und zur Reflexion des eigenen Agierens anhält. Das enthebt jedoch nicht davon, sich selbst im Sinne der Keuschheit um besondere Sensibilität für die jeweilige Situation zu mühen. Gerade die Keuschheit weiß um die Verletzlichkeit besonders schutzbedürftiger Menschen. Von daher verbietet sie es sich, die Schwachheit anderer in unangemessener Weise auszunutzen und der Versuchung nachzugeben, deren Ausgeliefertsein schändlich zu missbrauchen. Im Gegensatz dazu versteht gerade der keusche Mensch die Verletzlichkeit anderer als Anruf zu besonderer Achtsamkeit. Das verlangt nach der Fähigkeit zu echter Empathie und liebevoller Fürsorge.
Keuschheit als Schule der Beziehungsfähigkeit
Die bisherigen Überlegungen haben eines deutlich werden lassen: Keuschheit ist die Grundlage echter Beziehungsfähigkeit 16. Nur jener kann anderen wirklich selbstlos und im Sinne Christi dienen, der eine reife Persönlichkeit ausgebildet hat, um seine Bedürfnisse weiß, sie reflektieren kann und sie in seine Persönlichkeit integriert hat. Keuschheit hat demnach nichts mit prüder Verklemmtheit oder falscher Schüchternheit zu tun. Sie ist als Tugend die positive Grundhaltung, die einen wahrhaft menschlichen, personen- wie situationssensiblen Umgang ermöglicht. Wer ganz bei sich ist, kann auch ganz beim anderen sein. Beziehungen verbleiben dann nicht im Oberflächlichen oder auf der Ebene des rein professionell-seelsorglichen, sondern gewinnen Tiefgang, so dass Herz zu Herz sprechen kann, ohne in unangemessener Weise Grenzen zu verletzen.
Zu den besonderen Herausforderungen des zölibatär lebenden Priesters gehört sicher die Spannung zwischen der Verfügbarkeit gegenüber den Oberen einerseits und der Verpflichtung zur aufopferungsvollen Hingabe für die seiner Hirtensorge anvertrauten Menschen andererseits 17. Falls es dem Einzelnen nicht gelingt, in diesem Spannungsgefüge eine wechselseitige Kommunikation aufzubauen, kann das zu einer falschen Spiritualisierung des Lebensideals führen. Sie zeigt sich darin, dass der Priester im Letzten sich selbst verhaftet bleibt, ohne sich dem jeweiligen Gegenüber wirklich zu öffnen. Trotz des tagtäglichen Einsatzes im doppelten Gehorsam gegenüber Bischof und Gemeinde fällt dann eine authentische Kommunikation aus, die für ein erfüllendes Leben unabdingbar ist. Verfügbarkeit geht auf Kosten echter Beziehungsfähigkeit. Das Ergebnis ist der „blutleere Kirchenbeamte“ 18, der zwar funktioniert, aber dem es nicht gelingt, andere Menschen zu erreichen. Über das Bemühen, sich im Dienst voll zu verausgaben, versäumt er es, für andere zur Gabe zu werden 19.
Wenn Papst Franziskus dagegen von der „Revolution der Zärtlichkeit“ 20spricht, dann meint er damit wohl genau diese notwendige, innere Zugewandtheit, die es ermöglicht, in der Seelsorge Menschen an sich heranzulassen, ihnen die eigene Aufmerksamkeit zu schenken und sich von ihrer Person wie auch ihrer Situation berühren zu lassen. Erst wo man „auf Augenhöhe“ zueinander findet, kann sich Wandlung ereignen 21.
Keuschheit und Kontemplation
Die tiefen Erwägungen des Thomas von Aquin zur Keuschheit fasst Josef Pieper am Ende so zusammen: „Keuschheit (…) macht nicht nur zur Wahrheitsvernehmung fähig und bereit und also auch zu wirklichkeitsgerechter Entscheidung, sondern auch zu jener höchsten Form des Wirklichkeitsverhältnisses, in der ungetrübteste Erkenntnishingabe und selbstloseste Liebeshingabe eins sind: zur Beschauung (contemplatio), in der sich der Mensch dem göttlichen Sein zukehrt und der Wahrheit inne wird, die zugleich das höchste Gut ist.“ 22Demnach bildet die geistige Haltung der Keuschheit die Voraussetzung echter Wahrheitserkenntnis. Der innerlich unverstellte Mensch vermag die Wirklichkeit ganz zu erfassen. Zugleich lässt er sich von dieser Wirklichkeit auch in die Pflicht nehmen, so dass sie ihm zur Richtschnur für sein eigenes Leben wird. Keuschheit und Kontemplation sind nicht voneinander zu trennen. Wer im Gebet des Geheimnisses des dreifaltigen Gottes und seiner sich selbstlos verschenkenden Liebe innewird, kann nicht anders, als selbst Maß zu nehmen an dieser Liebe, welche die Liebe ohne Maß ist 23. „Selig, die rein sind im Herzen; denn sie werden Gott schauen“ (Mt 5,8).
Stete Umkehr zur Keuschheit
Keuschheit ist, wie erwähnt, nicht Enthaltsamkeit. Umgekehrt ist Enthaltsamkeit noch lange kein Garant für ein keusches Leben. Das wussten schon die Mönchsväter 24. Die zölibatäre Lebensform allein kann daher nicht den Anspruch auf ein keusches Leben erheben. Die äußere Form muss auch gedeckt sein durch das persönliche Bemühen um Keuschheit. Keuschheit ist wie alle Tugenden kein bleibender Besitz. Um die Keuschheit muss man sich ein ganzes Leben lang mühen. Das bewahrt einen vor Überheblichkeit und wird zur beständigen Demutsübung.
Der heilige Josef hat im Sinne der caritas ordinata der Liebe zu Gott den ersten Platz eingeräumt und sein Leben ganz danach ausgerichtet. Er hat die Vaterrolle für Christus bereitwillig übernommen und war sich dennoch immer darüber im Klaren, wer er ist und wer er nicht ist. Mit großer Diskretion wusste er das Geheimnis Mariens zu wahren und blieb ihr Zeit seines Lebens in liebevoller Fürsorge zugetan, ohne sie bloßzustellen oder selbstgerecht dem Gerede der Menschen auszuliefern. Das göttliche Kind hat er vor jedem Übergriff bewahrt und war sich dafür nicht zu schade, immer neu aufzubrechen, bis es ihm geschenkt wurde, seiner Familie die Geborgenheit eines echten Zuhauses zu geben. Von ihm hat Jesus gelernt, mit den Menschen auf die unterschiedlichsten Weisen in Beziehung zu treten und sich dennoch immer selbst treu zu bleiben. Die mittelalterlichen Krippendarstellungen zeigen uns einen nachdenklichen Josef, die Wange in die Hand geschmiegt. Er betrachtet das Geheimnis der Menschwerdung des Gottessohnes und lässt sich im Geist der Kontemplation zu einer Erneuerung seiner Liebe herausfordern. In seinem besonderen Gedenkjahr möge der heilige Josef geistlicher Vater und Wegweiser zur Keuschheit werden, die zur wahren Gottes- wie Selbst- und Nächstenliebe befähigt.
*Bei diesem Beitrag handelt es sich um eine für GEIST & LEBEN überarbeitete Fassung des von Bischof Dr. Franz Jung verfassten Gründonnerstagsbriefes 2021 , adressiert an die Priester und Diakone des Bistums Würzburg.
1Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben „Patris Corde“ (08.12.2020), Schluss.
2E. Kürpick, Heimliches Feuer unter der Asche. Gedanken zur Keuschheit , in: GuL 88 (2015), 336–343, hier: 337.
3Zu einer überblicksartigen Darstellung vgl. die Artikel Keuschheit I–IV , in: TRE 18 (1989), 113–134.
4Vgl. Papst Franziskus, Nachsynodales Apostolisches Schreiben „ Amoris Laetitia “ (19.03.2016), Nr. 158–162 zum rechten Verhältnis von Ehe und Jungfräulichkeit.
5Zur Keuschheit als „Kampfbegriff“ vgl. K. Westerhorstmann, Geordnete Sexualität. Über die Tugend der Keuschheit , in: IMABE 17 (2010), 315–329, hier: 318.
6 Pontifikale . Bd. I: Die Weihe des Bischofs, der Priester und der Diakone (Handausgabe). Freiburg 1994, 168.
7F.-J. Bormann, Abschied von der Verbotsmoral. Zur Bedeutung eines fähigkeitstheoretischen Ansatzes für die Moraltheologie , in: ThQ 191 (2011), 210–222.
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