Surin beginnt mit der Beschreibung, was eine Person erfahren kann, die sich das erste Gebot zu Herzen nimmt. Denn Gott mit dem ganzen Herzen zu lieben – das ist nach Surin das Fundament des geistlichen Lebens schlechthin. Diese Liebe mag am Beginn unvollkommen sein. Eigeninteresse schwingt mit. Aber die Liebe kann wachsen hin zu einer stärkeren Orientierung am heiligen Gegenüber. Es wird möglich, sich selbst gänzlich zu vergessen und jede andere Form der Zuneigung von der Gottesliebe überlagern zu lassen. Solchen Menschen kann die Erfahrung der Gotteskindschaft zugänglich werden, von der Paulus sagt: „Der Geist selber bezeugt unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind“ (Röm 8,16). Surin führt aus: „[Diese Worte] zeigen einen klar identifizierbaren Effekt. (…) In der Tat, wenn eine Person dieser Richtung im spirituellen Leben folgt und sie sich selbst großzügig und freigiebig Gott ganz gibt und nichts für sich selbst behält, sondern vielmehr sich selbst ganz der Liebe Gottes hingibt, dann wohnt die Gnade fühlbar in ihr. Sie fühlt einen inneren Sinn von Vertrauen und Frieden, die den guten und vertrauensvollen Freunden Gottes auf einzigartige Weise gegeben sind. Wie es unser Glaube lehrt: Der Heilige Geist lebt in uns und bringt seine eigene Güte als Zeichen seiner Präsenz. (…) Das Herz des Glaubenden ist davon überzeugt und bleibt es – nicht nur in Bezug auf allgemeine Glaubenseinsichten, sondern auch hinsichtlich einer Erfahrung ( sentiment ), welche kindlich ( filial ) und wundervoll zugleich ist. Die Seele bemerkt und weiß, dass sie zu Gott gehört, ohne Furcht, einer Illusion aufzusitzen; sie ist sich darüber sicher. (…) Es gibt zahlreiche gute und reine Seelen, denen Gott, nachdem sie lange in seiner Liebe gelebt und ihn in allem gesucht haben, eine derartige Erfahrung seiner Präsenz schenkt. (…) Kaum jemals wird das anderen gegeben, als jenen, die mit ihrem ganzen Herzen Gott suchen, Seelen, die ohne Vorbehalt ganz Gott gehören, ihm nichts verweigern (…) und keinen anderen Wunsch haben als seinen göttlichen Willen.“ 9
Die Erfahrung, die Surin hier beschreibt, ist zentral: Es geht um die Sohnschaft, also um die Zugehörigkeit zum Vater, wovon der Heilige Geist Zeuge ist. Davon erhält der Mensch Gewissheit, dass es keine Illusion ist. Die Sichtweise Surins stimmt mit einer langen mystischen Tradition überein. Außerdem entspricht sie dem, was Surin selbst erfahren und was er an anderen wahrgenommen hat, wie etwa am jungen Mann auf dem Weg nach Bordeaux. Die trinitarische und christologische Dimension Surins ist bemerkenswert. An dieser Stelle aber, so hebt Surin hervor, tauchte der Einwand auf. Der erste Einwand klingt wie eine Wiederholung dessen, was Vitelleschi einige Jahre zuvor geäußert hatte: „Diejenigen, die ersehnen, den Heiligen Geist der Gotteskindschaft zu bezeugen, bilden sich etwas auf ihre Einzigartigkeit ein. Hartnäckig beharren sie auf ihrer eigenen Intuition und geben ihr den Vorzug gegenüber dem, was ein Vorgesetzter sagt. Das ist eine Quelle der Illusion.“ 10
Das war Vitelleschis Thema: Junge, mystisch orientierte Jesuiten erlaubten sich selbst, sich zu stark von eigenen, persönlichen Einsichten leiten zu lassen. Demgegenüber hob Vitelleschi die Bedeutung des Gehorsams hervor. Surin besteht darauf, dass dieser Einwand ohne Begründung ist: „Diesem würde ich antworten, dass die Einsicht, welche reinen Seelen durch den Heiligen Geist gewährt wird, immer dem Licht des Glaubens konform ist. Dieses Licht überzeugt, sich gehorsam zu zeigen. Wer diesem Licht folgt, kann nicht irren; anders, wenn die Seele, die es erhalten hat, der Führung eines anderen folgt.“ 11
Surin ist ein wichtiger Repräsentant der mystischen Spiritualität der Jesuiten im 17. Jahrhundert. Sein dramatisches Leben kann leicht von seinen Arbeiten zur mystischen Theologie, die er vor allem in den späten Jahren mit theologischer Präzision verfasst hat, ablenken. Doch bereits früh zeigte die Vorliebe für die Josefs-Verehrung, wie sie in manchen Briefen des jungen Jesuiten aufscheint, einen verschleierten Bezug zur mystischen Dimension. Diese Dimension war von den älteren Mitbrüdern und der Ordensleitung keineswegs gerne gesehen. Sie wurde als dem Geist des Ordens unangemessen bewertet, als etwas, was zum Ungehorsam verleitete. Aber Surin widersprach dieser Interpretation und lieferte solide theologische Argumente für seine Position.
*Dieser Beitrag wurde für GEIST & LEBEN in englischer Sprache verfasst. Übersetzung: Romana Kloiber.
1J.-J. Surin, Triomphe de l’amour divin sur les puissances de l’Enfer et Science expérimentale des choses de l’autre vie (Collection Atopia). Grenoble 1990.
2Zu Surins Werken vgl. M. de Certeau, Les oeuvres de J. J. Surin , in: RAM 40 (1964), 443–476; 41 (1965), 55–78.
3 Brief 18 , in: M. de Certeau (Ed.), Jean-Joseph Surin. Correspondance . Paris 1966, 140–143.
4Vgl. M. Bouix (Ed.), OEuvres spirituelles du Père Jean-Joseph Surin: Traité inédit de l’amour de Dieu, précédé de la vie de l’auteur . Paris 1890, 8; J.-J. Surin, Triomphe de l’amour divin , 281f. [s. Anm. 1].
5 Brief 27 (20. Dezember 1632), in: Jean-Joseph Surin. Correspondance , 168ff. [s. Anm. 3].
6M. de Certeau, Crise sociale et réformisme spirituel au début du XVIIe siècle , in: RAM 41 (1965), 339–386, zusammengefasst in: Jean-Joseph Surin. Correspondance , 34–42; 433–462.
7Zit. n. M. de Certeau, Crise sociale , 372–373 [s. Anm. 6].
8Obwohl bereits 1665 verfasst, wurde dieser Text in der jetzigen Form erst 1879 veröffentlicht. Eine Paraphrase tauchte unter dem Titel Le prédicateur de l’amour de Dieu 1799 auf. Hier folgen wir der neuesten Ausgabe: J.-J. Surin, Questions importantes à la vie spirituelle. Sur l’amour de Dieu . Texte primitif révisé et annoté par Aloys Potter et Louis Mariès. Paris 1930.
9Ebd., 6f.
10Ebd., 22.
11Ebd.
Bischof Franz Jung |Würzburg
geb. 1966, Dr. theol.,
seit 2018 Bischof von Würzburg
bischofssekretariat@bistum-wuerzburg.de
Keuschheit neu gelesen
Auf der Spur des hl. Josef
Die 150. Wiederkehr der Erhebung des Heiligen Josef zum Patron der katholischen Kirche nimmt Papst Franziskus in diesem Jahr zum Anlass, das Augenmerk besonders auf den Heiligen Josef zu lenken. Der Papst verfolgt damit die Absicht, „die Liebe zu diesem großen Heiligen zu fördern und einen Anstoß zu geben, ihn um seine Fürsprache anzurufen und seine Tugenden und seine Tatkraft nachzuahmen.“ 1Unter den vielen Tugenden des Heiligen Josef soll im Folgenden die Aufmerksamkeit auf die Tugend der Keuschheit gerichtet werden. Ein schwieriges Unterfangen! Denn zum einen ist der Begriff Keuschheit längst aus unserer Alltagssprache verschwunden. Zum anderen „haftet ihr der Geruch des hoffnungslos Antiquierten, ja Lebensfeindlichen an“ (E. Kürpick). 2Darüber hinaus muss, wer das mit Keuschheit Gemeinte begreifen will 3, eine Reihe von Missverständnissen benennen und beseitigen.
Eine Tugend in Misskredit
Keuschheit hat zunächst nichts mit sexueller Enthaltsamkeit zu tun. Diese falsche Gleichsetzung wurde über Jahrhunderte auch innerhalb der Kirche vorgenommen und kommt in der aszetischen Literatur immer noch und immer wieder vor. Die Identifizierung von Keuschheit und sexueller Enthaltsamkeit und deren weltfremde Überbetonung hat zu vielfältigen Karikierungen Anlass gegeben. Ihre Verherrlichung als überlegene (religiöse) Lebensform 4hat sie insgesamt in Misskredit gebracht, so dass viele Zeitgenoss(inn)en allein schon beim Hören des Begriffs „Keuschheit“ innere Aversionen gegen diese Tugend entwickeln 5. Man mutmaßt, mit einem vorgestrigen Tugendmodell Herausforderungen heutiger Sexualethik ausblenden zu wollen, in der Sehnsucht nach einer vermeintlich heilen, abgeschlossenen religiösen (Sonder-)Welt.
Читать дальше