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Vorsatz[1] wird in der Kurzformel beschrieben als Wissen und Wollen der Tatbestandsverwirklichung. In der Klausur kann man sich allerdings auf diese Kurzformel allenfalls in ganz unproblematischen Fällen beschränken.[2]
I. Die Wissensseite im Vorsatz (kognitives Element)
1. Kenntnis der Tatumstände und ihres Bedeutungsgehaltes
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Sie liegt vor, wenn der Täter sich derjenigen Umstände bewusst ist, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören.
Beispiel:Jäger J vergisst, dass im Gebüsch sein Jagdkollege K sitzt. Er schießt, weil er den furchtbar hässlichen K für einen Keiler hält, und trifft ihn tödlich.
Lösung:Im Moment des Schusses ist dem J die von § 212 StGB vorausgesetzte „Menschqualität“ des anvisierten Objektes nicht bewusst. D. h. er kann allenfalls nach § 222 StGB bestraft werden.
Bei deskriptiven Begriffen, d. h. solchen Begriffen, die im Allgemeinen der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich sind (z. B. Mensch, Sache, Tier), genügt es, wenn der Täter diese Gegenstände auch tatsächlich sinnlich wahrgenommen hat.
Bei normativen Begriffen, d. h. bei solchen Begriffen, deren Feststellung lediglich durch Wertung erfolgen kann (z. B. fremd, Urkunde, Sachbeschädigung), muss der Täter den Bedeutungsgehalt geistig verstanden haben.[3]
2. Parallelwertung in der Laiensphäre
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„Kenntnis der Tatumstände und ihres Bedeutungsgehalts erfordert nicht die richtige Subsumtion unter ein Tatbestandsmerkmal, sondern nur die Kenntnis des vom Gesetzgeber unter Strafe gestellten Sachverhalts und seines Bedeutungsgehalts“[4] (= Parallelwertung in der Laiensphäre). Andernfalls könnte nur der Jurist bestimmte Straftaten begehen.[5]
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Beispiel 1:Student A lässt am Porsche des Professors P die Luft aus den Reifen heraus. In der Hauptverhandlung wegen Sachbeschädigung lässt er sich dahingehend ein, dass so etwas doch keine Sachbeschädigung sein könne. Er habe geglaubt, dass Sachbeschädigung ein „Kaputtmachen im Sinne eines Reifenaufstechens“ voraussetze, und außerdem müssten in Deutschland derartige Späße erlaubt sein. Strafbarkeit des A?
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Lösung:Sachbeschädigung nach § 303 I StGB ist jeder nicht ganz unerhebliche Eingriff in eine Sache, der zu einer nicht nur unerheblichen Substanz- oder Gebrauchsbeeinträchtigung führt.[6] Voraussetzung des Vorsatzes ist nicht, dass der Täter unter eine Strafvorschrift genau subsumieren kann. Entscheidend ist vielmehr bei normativen Begriffen, dass er den Bedeutungsgehalt des jeweiligen Merkmals erfasst hat. Dies ist hier der Fall, weil er wusste, dass er durch das Herauslassen der Luft die Brauchbarkeit des PKW aufhob. Dass A sich eine andere Vorstellung vom Sachbeschädigungsbegriff machte, ändert daher nichts daran, dass er sich der Bedeutung des Verhaltens, das der Gesetzgeber unter Strafe stellt, bewusst war (hinreichende Parallelwertung in der Laiensphäre). Der Subsumtionsirrtum des A schließt daher seinen Vorsatz nicht aus. Die Tatsache, dass A geglaubt hat, derartige Späße müssten erlaubt sein, kann allenfalls einen – bei gehöriger Gewissensanspannung vermeidbaren – Verbotsirrtum begründen, bei dem die Strafe nach § 17 S. 2 StGB gemildert werden kann (fakultative Strafmilderung).
Achtung Klausur: Wenn Sie sich klar machen, dass dem Täter, um eine hinreichende Parallelwertung in der Laiensphäre zu haben, nur dasjenige bewusst gewesen sein muss, „was der Richter definiert“, dann laufen alle Fälle grundsätzlich nach demselben Schema und setzen nur eine genügende Definitionskenntnis im Besonderen Teil voraus. Das zeigt auch folgendes bekanntes
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Beispiel 2:A streicht auf seinem Bierdeckel einen Strich der Kellnerin weg. In der Hauptverhandlung wegen Urkundenfälschung erklärt er, er habe nicht gewusst, dass ein Bierdeckel eine Urkunde sei.[7]
Lösung:Eine Urkunde ist jede menschliche verkörperte Gedankenerklärung (Perpetuierungsfunktion), die ihren Aussteller – zumindest im Wege der Auslegung – erkennen lässt (Garantiefunktion) und zum Beweis im Rechtsverkehr geeignet und bestimmt ist (Beweisfunktion).[8]
Diesen Bedeutungsgehalt hat A erkannt, da er wusste, dass er die zum Beweis bestimmten Zeichen der Kellnerin in ihrem Beweiswert verändert hat. Selbst A wird zugeben müssen, dass ihm dieser Bedeutungsgehalt seines Verhaltens bewusst war, da es ihm ja gerade darum ging, den Sinngehalt zu verändern, um Geld zu sparen.
3. Sachgedankliches Mitbewusstsein
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Der Täter braucht im Tatzeitpunkt nicht über die einzelnen Tatumstände aktuell nachzudenken. Es genügt, dass er die Tatumstände „mitweiß“.[9]
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Beispiel:Der Polizeibeamte P entwendet im Supermarkt eine Banane, wobei er die Dienstwaffe bei sich führt, aber nicht konkret daran denkt. Strafbarkeit des P, wenn gegen ihn kein Strafantrag gestellt wurde?
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Lösung:§ 242 I StGB ist tatbestandlich, rechtswidrig und schuldhaft erfüllt. Der Qualifikationstatbestand des § 244 I Nr. 1a StGB setzt objektiv voraus, dass der Täter eine Waffe bei sich führt. Umstritten ist diesbezüglich, ob Berufswaffenträger aus dem Qualifikationsbereich auszunehmen sind. Dagegen spricht jedoch, dass die von § 244 StGB vorausgesetzte erhöhte Gefährlichkeit des Waffenträgers gerade bei einem Diebstahl durch einen Polizisten erfüllt ist, da dieser im Falle der Ergreifung mit dienstrechtlichen Konsequenzen (einschließlich einer Entlassung) zu rechnen hat und daher ggf. eher zur Waffe greifen wird. Eine tatbestandliche Reduktion kommt daher nicht in Frage. Auch scheidet eine in der Lit. diskutierte entsprechende Anwendung des § 243 II StGB auf § 244 StGB aus, da die systematische Stellung des § 243 II StGB gegen eine derartige Analogie spricht. Für den Vorsatz hinsichtlich des Beisichführens der Waffe genügt es, dass der P den Besitz der Waffe „mitwusste“. Nicht erforderlich ist, dass P aktuell an das Beisichführen der Waffe gedacht hat. P ist strafbar wegen Diebstahls mit Waffen nach §§ 242 I, 244 I Nr. 1a StGB. Der fehlende Strafantrag hindert eine Strafverfolgung nicht, denn § 248a StGB bezieht sich nach seinem Wortlaut ausdrücklich nur auf Fälle der §§ 242 bzw. 246 StGB und findet daher auf qualifizierte Diebstähle nach § 244 StGB keine Anwendung.[10] Der gleichzeitig verwirklichte § 246 StGB tritt dahinter im Wege der formellen[11] Subsidiarität zurück (vgl. § 246 I a. E. StGB).
Hinweis: Das OLG Hamm [12] hat allerdings darauf hingewiesen, dass das Bewusstsein des Beisichführens nur im Regelfall allein aus dem objektiven Umstand des Tragens einer Waffe im technischen Sinne geschlossen werden kann. Zweifel an einem aktuellen Bewusstsein, eine Waffe zu tragen, können sich nach Ansicht des OLG Hamm gerade aus dem berufsmäßigen Tragen ergeben und seien insbesondere dann anzunehmen, wenn der Beamte etwa für das „Vergessen von Gegenständen“ bekannt ist oder wenn der Diebstahlsentschluss spontan gefasst wird (im konkreten Fall nach einer unmittelbar vorausgehenden telefonischen Auseinandersetzung mit der Ehefrau). Das OLG Hamm ging sogar noch einen Schritt weiter und forderte für das Vorliegen eines Bewusstseins des Beisichführens sogar eine Konstellation, in der eine entsprechende Vorstellung des Angeklagten gleichsam „auf der Hand liegt“. [13]
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Bemerkenswert ist, dass der BGH das sachgedankliche Mitbewusstsein auch auf Opferseite im Rahmen des Betrugs ins Spiel gebracht hat. So hat der BGH im Schiedsrichterskandal-Fall Hoyzer einen Irrtum kraft sachgedanklichen Mitbewusstseins bejaht. Der Fall lag so, dass A den Schiedsrichter H dazu gebracht hatte, dass dieser Spiele falsch pfeift. Nachdem sich H hierzu bereit erklärt hatte, setzte A im Wettbüro auf die entsprechende „Siegermannschaft“. Der BGH hat hier eine Täuschung des A gegenüber dem Angestellten im Wettbüro (Lotto/Toto) angenommen und den Vermögensschaden des Wettanbieters auf einen „Quotenschaden“ gestützt. Den Irrtum des Angestellten im Wettbüro gründete der BGH dabei auf ein „sachgedankliches Mitbewusstsein“ des Angestellten im Hinblick darauf, dass die wesentlichen Vertragsgrundlagen (Manipulationsfreiheit der gewetteten Spiele) vorliegen. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass das Opfer bei den essentialia negotii stets davon ausgehe, „alles sei in Ordnung“. Mit den tatsächlichen Vorgängen in einem Lotto/Toto-Geschäft lässt sich dies freilich kaum vereinbaren, da wohl nicht davon auszugehen ist, dass sich ein dortiger Angestellter überhaupt Vorstellungen über die Frage der Manipulationsfreiheit macht. Der BGH fingiert hier daher wohl eher eine Fehlvorstellung bzgl. der wesentlichen Vertragsgrundlagen und lässt für eine ignorantia facti, die anerkanntermaßen keinen Irrtum auslöst, wohl nur dort Raum, wo es an einem geschäftlichen Kontakt überhaupt fehlt (näher zum konkreten Fall ausführl. Jäger , BT, Rn. 466 f. sowie zum Irrtum Jäger , BT, Rn. 478).
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