Schtoll nannte den Weg der Anderen im Verlauf seiner Rede den »Machtweg«. Die Menschen in Effels Teil der Welt lebten mit der Natur in Einklang, so wie dies zu allen Zeiten von den Weisen empfohlen worden war. Schtoll, wie auch der Rat des Südens, befürchteten, dass alle Völker, die natürlich lebten, wieder unterdrückt und sogar vernichtet werden könnten.
Das alles hatte es schließlich schon einmal gegeben. Aber dann fuhr er fort: »Scheinbar überstürzen sich die Ereignisse, Freunde. Es geht nicht mehr nur um die Beeinflussung des Klimas, was ja an sich schon schlimm genug ist. Alles deutet darauf hin, dass die andere Seite dabei ist, den Ewigen Vertrag zu brechen. Wir müssen unsere Kräfte bündeln und uns auf unsere Stärken besinnen. Wir müssen zusammenhalten, denn unser aller Leben hängt vielleicht davon ab! Ich bin einer der Gesandten, die geschickt wurden, die Kunde zu allen Menschen unserer Welt zu tragen.
Ich sage euch, das Damoklesschwert hängt über uns! Es hat eine Zeit lang gedauert, aber wir haben Informationen, denen zufolge etwas Großes in unserem Teil der Welt verborgen ist. Das werden sie suchen.
Madmut, der große, alte Seher des Südens, hat schreckliche Visionen davon gehabt, was passieren würde, wenn die Anderen es stehlen könnten. Unser aller Existenz ist in großer Gefahr. Wir sind uns sicher, Freunde, die Anderen werden den Ewigen Vertrag brechen. Sie werden nicht mit einer Armee kommen. Dazu wären sie zwar in der Lage, aber auf eine kriegerische Auseinandersetzung werden sie es zunächst einmal nicht ankommen lassen. Sie wissen, dass auch wir nicht wehrlos sind. Wir glauben, dass sie ein oder zwei Leute schicken, die hier zunächst einmal suchen und, wenn möglich, das Gesuchte auch gleich außer Landes schaffen sollen.«
Es sei höchste Zeit, so sein Schlussappell bei der Versammlung, dieser unheilvollen Entwicklung Einhalt zu gebieten.
Hier und da war ein »Richtig« aus dem Zuhörerraum zu vernehmen »Dann spüren wir sie auf und werfen sie aus unserem Land!«, rief Soko, der Schmied. Dabei wirbelte er seine riesige Faust wild in der Luft herum, so als würde er jeden Moment zuschlagen wollen. Einige der Umstehenden lachten.
»Das wird nicht einfach sein«, erwiderte Schtoll ganz ruhig.
»Diejenigen, die kommen, werden kein Schild um den Hals tragen und ich bin mir sicher, dass die Verantwortlichen keine Schlafmützen schicken.«
Damit beendete er seine Rede.
Die meisten Leute von Seringat waren erschüttert, einige schüttelten ungläubig den Kopf und ein paar Leute weinten sogar. Dann trat Schweigen ein. Man lebte hier so weit weg von allem in seiner eigenen kleinen, heilen Welt, dass das Wissen um eine mögliche Bedrohung leicht verdrängt wurde.
Jeder ermaß für sich selbst die Tragweite des eben Gehörten. Es war für viele unglaublich. Sollte es wirklich Menschen geben, die aus dem, was passiert war, scheinbar nichts gelernt hatten und sogar bereit waren, den Ewigen Vertrag zu brechen?
Die Große Katastrophe und die darauf folgende Umsiedelung waren zwar schon lange her, aber Schtolls aufrüttelnde Rede verfehlte ihre Wirkung nicht. Jedenfalls galt das für die Mehrzahl der Anwesenden. Die Geschichten, die schon die Kinder in der Schule lasen und hörten, handelten von ihr, und wie es dazu gekommen war. Nie mehr dürfe es geschehen und es müsse alles getan werden, das zu verhindern, endeten diese Erzählungen immer. Und jetzt sollte es wieder soweit sein?
Das Leben hier war zwar nicht immer leicht, aber es war lebenswert und niemand wollte sich das wieder nehmen lassen.
Deshalb bewerteten die meisten Leute die letzte Katastrophe auch nicht negativ, obwohl sie damals so vielen Menschen das Leben gekostet hatte und es weltweit zu solch großen Veränderungen gekommen war. Mindevol sagte immer, die Menschen hätten zu allen Zeiten nur durch Leid gelernt und deshalb hatte alles so passieren müssen.
»In der Tat ist der Anlass so wichtig«, ergriff Jelena erneut das Wort, »dass wir zu einem Entschluss darüber kommen sollten, was wir tun können. Ich möchte aber gleichzeitig auch zu bedenken geben, dass wir uns von der Heftigkeit der Nachrichten nicht zu übereilten Entscheidungen hinreißen lassen dürfen. Weiß man denn schon etwas über den Zeitpunkt? Wann werden sie kommen, Schtoll?«
Jelena brauchte nicht laut zu sprechen, denn wenn sie redete, war es immer mucksmäuschenstill im Raum. Kein Wort wollte man sich entgehen lassen.
»Nein, Jelena«, antwortete Schtoll, »über den Zeitpunkt wissen wir nichts Genaues. Sie werden aber auch Zeit brauchen, um diejenigen zu finden, die kommen werden.«
Jetzt trat Mindevol hervor und ergriff den Redestab. Wer den Redestab, einen verzierten Eichenstock, in der Hand hielt, konnte sich der Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicher sein.
»Im Namen meines Dorfes, das in diesen Tagen die Ehre hat, euer Gastgeber zu sein, begrüße ich euch alle herzlich. Auch ich bin immer noch über das, was unser Freund berichtet hat, aufgewühlt, wenngleich ich etwas länger Zeit hatte, mich mit seiner Botschaft zu beschäftigen.
In der Geschichte der Menschheit hat es immer ruhige und auch sehr bewegte Zeiten gegeben. Die Ankunft unseres Freundes aus dem Süden scheint nun wieder eine bewegte Zeit anzukündigen und ich möchte mich hier vor euch allen auch in eurem Namen bei Schtoll bedanken. Er hat weder Mühen noch Gefahren gescheut, den langen Weg zu uns in den Norden zu kommen, dazu noch in einer schwierigen Jahreszeit.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger aus Seringat, liebe Nachbarn, lasst euch nicht von der Angst beherrschen, sondern behaltet einen kühlen Kopf und ein warmes Herz. Die Problematik ist so schwerwiegend, dass der Ältestenrat sich auf eine mehrtägige Beratung einrichten wird. Aber jeder hat ja gehört, was Schtoll uns berichtet hat. Wir von Seringat, und das darf ich im Namen aller meiner Mitbewohner sagen, sind bemüht, euch, unseren Gästen, den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Für Essen und Trinken ist gesorgt und jeder wird ein Dach über dem Kopf haben. Die meisten von euch kennen sich ja von anderen, erfreulicheren Gelegenheiten und viele haben sogar ihre Familienbande in unserem Dorf geknüpft.«
Mindevol war dem Anlass entsprechend festlich gekleidet. Er trug eine helle Leinenhose, dazu ein dunkelbraunes Lederhemd in der Farbe seiner Augen, das ihm fast bis an die Knie reichte.
Seine weißen Haare und der fast leuchtende Bart ergaben einen starken Kontrast zum Braun des Hemdes.
»Lasst uns der Realität ins Auge schauen, Freunde. Mit unserem Frieden hier, und nicht nur hier, könnte es bald vorbei sein«, fuhr er fort, »da schließe ich mich der Meinung unseres Freundes aus dem Süden an. Nie war unsere Heimat so gefährdet.
Es mag hart klingen, aber es macht keinen Sinn, etwas zu beschönigen. Wie wir gehört haben, schicken sie eine Person oder vielleicht zwei, die etwas aus unserem Teil der Welt entwenden sollen. Wir wissen weder was es ist, noch wo sie suchen werden. Wir wissen auch nicht, wie viele Personen kommen werden. Aber wir werden es herausbekommen. Glaubt mir, wir werden es bald wissen.
Es dürfte klar sein, dass sie nur jemanden einschleusen werden, der mit außergewöhnlichen Fähigkeiten ausgestattet ist. Ich bin mir aber auch sicher, ja ich weiß, dass Menschen unter uns leben, die dieser Person ebenbürtig sind. Darum lasst uns die Herausforderung mutig annehmen. Wir werden nicht tatenlos zusehen. Das würden uns nachfolgende Generationen niemals verzeihen.«
Ein zustimmendes Murmeln ging durch die Reihen.
»Aber jetzt möchte ich unserem Freund aus Verinot das Wort erteilen. Danke, Marenko, dass du gekommen bist.«
Der Bürgermeister von Verinot, der sich heftig zu Wort gemeldet hatte, war inzwischen nach vorne gekommen. Er atmete schwer, denn er musste seinen fülligen Leib durch die Menge drängen. Während er die kleine Bühne erklomm, wischte er sich mit einem Tuch einige Schweißperlen von der Stirn. Es war inzwischen sehr warm im Versammlungshaus. Das Feuer im Kamin und die Menschen verbreiteten ja auch noch ihre eigene Wärme. Mindevol übergab Marenko den Redestab.
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