Klaus Bittermann
Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine Suche nach dem Glück
Ein Ausreißerroman
FUEGO
- Über dieses Buch -
Die 16-jährige Nancy fährt mit dem Citroën ihres Vaters nach Italien und nimmt unterwegs den 17-jährigen Sid mit. Beide sind von zu Hause weggelaufen. Sid ist ein etwas naiver Punk und Nancy eine verwöhnte Tochter aus gutem Hause, die von einer unbändigen Reiselust getrieben ist. Einer Zeitungsmeldung zufolge hinterlässt »das junge Paar in Luxushotels unbezahlte Rechnungen und bestohlene Hotelgäste«. Und weiter erfährt man: »Das Mädchen trat betont selbstbewusst auf und trug stets einen teuren Pelzmantel.« Klaus Bittermann hat die Zeitungsnotiz ausgeschnitten und über 35 Jahre lang aufbewahrt, um nun die Geschichte dazu zu erfinden.
Auf ihrer Reise durch Norditalien treffen Nancy und Sid auf üble, aber auch hilfsbereite und andere absonderliche Gestalten wie einen Bordellbesitzer auf der Flucht, den Bassisten der Clash, einen alten Spanien-Kämpfer und eine Ringerin aus Berlin. Aber irgendwann geht der kurze Sommer der Anarchie zu Ende. Die beiden verlieren sich. Für Sid beginnt die verzweifelte Suche nach Nancy, die ihn nach Barcelona und auf eine kleine griechische Insel verschlägt.
Für Tania
In girum imus nocte et consumimur igni
Drei Wochen nach dem desaströsen Ende der Operation Eagle Claw, dem Zusammenstoß einer Lockheed C-130 mit einem Hubschrauber in einem iranischen Wüstengebiet, der sich beim Versuch der Amerikaner ereignete, die als Geiseln gehaltenen Botschaftsangestellten in Teheran zu befreien, sprang der Schüler Sid Schlebrowski aus dem Fenster der elterlichen Wohnung und wäre um ein Haar auf der Katze Nancy gelandet, die dem Nachbarn im 1. Stock gehörte. Nancy fauchte und machte erschrocken einen Satz zur Seite. Sid entschuldigte sich und lief zur Ausfallstraße des kleinen Städtchens und wartete am Straßenrand darauf, dass ihn jemand mitnahm.
Um 14 Uhr hielt ein schwarzer Citroën DS. Als Sid später daran zurückdachte, war ihm, als wäre der eiskalte Engel Alain Delon in seinem Trenchcoat ausgestiegen und hätte ihn mit versteinerter Miene angestarrt, die Hände in den Manteltaschen. Aber wahrscheinlich hatte sich einfach das Standbild einer Filmszene über diesen Teil seiner Erinnerung gelegt.
Sid lief zum Citroën, öffnete die Tür und sah ins Wageninnere. Alain Delon hatte eine riesige Insektenbrille auf. Der Stimme, die ganz anders klang als die von Delon, viel höher und nicht so gefährlich, war eine leichte Ungeduld anzuhören: »Jetzt komm schon rein. Ich hab nicht vor, hier Wurzeln zu schlagen.«
Alain Delon hieß in Wirklichkeit Nancy von Westphalen und war gerade 16 geworden.
Sid rutschte eilig auf das schwarze Leder des Beifahrersitzes, und kaum war die Tür ins Schloss gefallen, gab Nancy Gas. Sie ließ die Kupplung zu schnell kommen. Der Wagen bäumte sich auf und starb.
»Scheiße«, sagte sie.
Sie startete den Wagen erneut, drückte das Gas durch und fegte mit quietschenden Reifen auf die Fahrbahn. Hinter ihr noch mehr quietschende Reifen und hektisches Hupen.
»Ist ja gut, Blödmann«, fauchte Nancy, der der Schrecken durch den Körper gefahren war. Sie beschleunigte und nach kurzer Zeit war das Hupen nicht mehr zu hören.
Ihr Vater Viktor von Westphalen hätte, wäre er Zeuge dieser Szene geworden, gesagt, dass dies ein neuerlicher Beweis für das Tourette-Syndrom sei, an dem seine Tochter laut einer eher fragwürdigen Diagnose des Hausarztes litt, der in einer populären Fachzeitschrift darüber gelesen, aber noch nie mit einem Tourette-Patienten zu tun hatte. Und ihre Mutter Auguste von Westphalen hätte gesagt, Nancy müsse unbedingt zu einem Analytiker, damit der das wegmachte, denn »Scheiße« und »Blödmann« gehörten nicht zum Wortschatz der Familie und standen seit jeher auf die Liste der verbotenen Wörter.
»War ganz schön knapp«, sagte Nancy und atmete tief durch.
»Hätte fast geknallt«, sagte Sid. Er krallte sich im Sitzpolster fest und stemmte seine Beine in den Fußraum, als wollte er das Bodenblech durchdrücken, denn Nancy beschleunigte und jagte den Motor hoch, bevor sie abrupt in den nächsten Gang schaltete. Sie saß auf einem Kissen. Unnötigerweise, denn der Citroën hatte einen in der Höhe verstellbaren Sitz. Ihre Hände hielten das Steuer umklammert wie ein Ertrinkender einen Rettungsring. Immer wieder sah sie in den Rückspiegel und grummelte etwas, das sich wie »Arschgeigen« und »Armleuchter« anhörte, ebenfalls Wörter, mit denen man sich im Haushalt der Westphalens besser nicht erwischen ließ.
Sid sah verstohlen zur Seite und registrierte leicht hervortretende Backenknochen, schwarzes, zerzaustes Haar. Schmale, rotglänzende, trotzige Lippen, grüne Augen, eine griechische Nase. Sie trug ein über die rechte Schulter gerutschtes weißes T-Shirt und eine schwarz-weiß längs gestreifte Sommerhose mit Schlag.
»Wo willst du hin?«, fragte Nancy schließlich, nachdem sie auf die Autobahn gefahren war und die Anspannung langsam von ihr abfiel.
Sid wusste es nicht.
»Keine Idee?« Nancy warf ihm einen Blick zu. »Vielleicht Süden?«
»Süden ist nicht schlecht«, hörte Sid sich antworten.
»Oder Westen?«
»Frankfurt? Auch nicht schlecht. Hauptsache weg von hier.«
»Kein bestimmtes Ziel?«, fragte Nancy.
»Nein«, sagte Sid.
»Kein Traum?«
»Traum?«
»Einen Ort, wo du schon immer mal hin wolltest?«
Doch, den gab es. Das Mekka eines jeden Punk, den magischen Ort, wo die Clash, die Sex Pistols und die ganzen anderen Bands ihre ersten Auftritte gehabt hatten. 100 Club, World’s End, King’s Road, SEX, der Laden, in dem Sid und Johnny und Siouxsie und Catwoman immer rumhingen. Aber London lag in einer anderen Galaxie. Es war kein realer Ort, keine Stadt, sondern eine Sehnsucht, von der Sid niemals glaubte, dass sie sich erfüllen könnte. Wie sollte er der Insektenbrille vermitteln, was er meinte, fühlte, was das alles für ihn bedeutete, wusste er doch selbst nicht, wie er das alles in Worte hätte fassen können. In diesem Augenblick aber war Sid auch jede andere Stadt recht.
»Also. Du kannst dir was aussuchen. Wohin soll’n wir fahren?«, fragte Nancy, als von Sid keine Antwort kam. »Ist ein Angebot.«
»Keine Ahnung«, sagte Sid.
»Die Gegend kenn ich nicht«, sagte Nancy.
»Soll aber ganz okay dort sein«, sagte Sid.
»Bist du abgehauen?«, fragte Nancy.
»Mmh«, sagte Sid.
»Ärger zu Hause?«, fragte Nancy.
»Mmh«, sagte Sid.
»Bei mir auch.«
»Ah.«
»Wie heißt du?«, fragte Nancy.
»Sid«, sagte Sid.
»Sid? Echt jetzt?« Nancy kicherte zum ersten Mal, seit sie mit dem Citroën über den Kies auf dem Schlosshof in Richtung andere Welt gerollt war, von der sie glaubte, die Sterne würden dort heller leuchten, die Versprechungen ins Unendliche wachsen, das Leben brennen und jede Menge los sein.
»Nancy«, stellte Nancy sich vor und Sid sah sie überrascht an.
Er ließ sich von ihrem Kichern anstecken und verzog seine Lippen zu einem schmalen Lächeln. Sid überlegte, ob dieses Mädchen wirklich Nancy hieß. Vielleicht war Nancy genauso ausgedacht wie Sid. Nach einem großen Problem sah das jedoch nicht aus. Aber was war sein Problem? Das größte entfernte sich mit jedem zurückgelegten Kilometer mehr. Es hieß Willy Schlebrowski und war sein Vater.
Wie Wanda Schlebrowski darauf gekommen war, wusste Sid nicht, aber offenbar hatte sie einen Artikel über die Auswirkungen von Cannabis gelesen, wahrscheinlich in der Fernsehzeitschrift Hörzu, denn Sid hatte sie nie etwas anderes lesen sehen. Plötzlich war sie überzeugt gewesen, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er aus dem Fenster springen würde. Wanda hatte lange überlegt, worauf das mürrische Verhalten Sids in der letzten Zeit zurückzuführen war. Er machte kaum den Mund auf, nicht mal, wenn er etwas gefragt wurde, und er machte einen abwesenden Eindruck, als interessiere ihn nicht, was sie, immerhin seine Mutter, zu sagen hatte. Sie hatte gewartet, bis er von der Schule nach Hause kam, und ihn dann zur Rede gestellt.
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