Die Luft war frisch und klar und sie kamen gut voran. Sam lief voraus und Effel ging neben dem Krull her. Dabei brauchte er gar nicht langsamer zu gehen. Wie Perchafta es machte, mit ihm Schritt zu halten, erkannte Effel allerdings nicht, es schien ihn auch nicht im Mindesten anzustrengen. Die beiden sprachen nun längere Zeit nicht miteinander, Effel war einerseits mit seinen Gedanken beschäftigt und wollte andererseits Perchafta keine Löcher in den Bauch fragen. Dem Krull schien das nur recht zu sein. Ein paar Mal schon hatte Effel für Momente den Eindruck, als sei sein kleiner Begleiter mit den Gedanken weit weg.
Nach einer Weile gelang es ihm, sich mehr auf die Landschaft, durch die sie jetzt kamen, zu konzentrieren. Eine weich geschwungene Hügellandschaft lag vor ihnen, von mehreren kleinen Flüssen durchzogen. An den Ufern dieser Wasserläufe standen Pappeln, Birken und unterschiedlichste Sträucher, die weit über das Wasser ragten. Effel konnte Graureiher erkennen, die beinahe regungslos am Ufer standen und auf einen Fisch warteten. Das Gras wurde von einem leichten Wind bewegt, sodass es beinahe aussah wie die sanften Wellen des Meeres. In der Ebene weideten Pferde und Rinder. Auf einer Anhöhe lag wohl das Haus des Farmers.
Die beiden Wanderer blieben stehen, um den Blick, der sich ihnen bot, zu genießen. Nachdem Perchafta sich dann auf einen Grenzstein am Weg gesetzt hatte, meinte er:
»Welch eine Aussicht. Hörst du die Melodie des Windes und spürst du seinen Hauch auf deinem Gesicht? Riechst du den Duft der Gräser? Es ist wundervoll, nicht wahr? Dass es dies alles wieder gibt, zeugt von der Kraft der Natur. Kaum vorstellbar, dass es Menschen gab, die so etwas nicht achteten, ja sogar zerstörten. Und doch war es so.«
Perchafta hatte fast geflüstert, wurde nun aber wieder lauter:
»Dieser Blick ist das Einzige, was jetzt zählt. Weder Dein Auftrag ist in diesem Moment von Bedeutung noch das Ziel deiner Reise, das du sowieso nicht kennst. Nur das Jetzt ist wichtig und so ist es immer, nur das Hier und Jetzt ist wichtig. Das Leben findet im Hier und Jetzt statt, nirgend woanders. Die Menschen müssen alles in Zeit einteilen und sind mit ihren Gedanken dann entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft unterwegs, eine unsinnige Angewohnheit.«
»Warum«, fragte Effel, »ist es nicht wichtig, sich an die Vergangenheit zu erinnern? Die Gegenwart gäbe es doch gar nicht so wie sie ist, wenn nicht die Vergangenheit so gewesen wäre, wie sie war.«
»So meinte ich das nicht, Effel, mit dem was du sagst, hast du natürlich Recht. Was ich meinte, ist, dass die meisten Menschen mit ihren Gedanken in der Vergangenheit leben, vor allem dann, wenn sie dort schlechte Erfahrungen gemacht oder etwas Schönes verloren haben. Dann haben sie Angst davor, dass etwas Ähnliches noch mal passieren könnte. Und was passiert, wenn man Angst hat, das weißt du. Man ist nicht mehr offen, für das, was wirklich im Jetzt geschieht.«
»Das hat Malu auch oft gesagt, jedenfalls so ähnlich, und jetzt habe ich verstanden, was du meintest, Perchafta.«
»Genauso ist es mit der Zukunft«, fuhr der Krull fort. »Und das ist sogar noch viel blödsinniger, wenn man es genau betrachtet. Die Zukunft gibt es ja noch gar nicht und sie entsteht doch aus dem Hier und Jetzt. Wenn ich ganz bewusst im Hier und Jetzt lebe, nach den Naturgesetzen und in Harmonie mit mir und den anderen Geschöpfen, was kann da Schlimmes passieren? Wir erschaffen doch unsere Zukunft durch unsere Taten und Gedanken von heute. Es mag vielleicht etwas abgedroschen klingen, Effel, aber alle alten Schriften besagen, dass das Rezept für ein vollkommenes Leben ein Leben im Hier und Jetzt ist. Es gilt, mit dem anzufangen, was gerade vor einem ist, den Problemen beim Hausbau, einer Partnerschaft, den Sorgen um die Kinder, Krankheit der Großmutter oder Überwindung der Ängste.«
»Ja, das wird bei uns schon den Kindern beigebracht und es tut gut, es noch einmal so deutlich zu hören. Aber hat man das früher nicht auch schon gewusst? Und wenn ja, frage ich mich, wie es zu alldem kommen konnte, was schließlich in der großen Katastrophe endete.«
»Sicher, Effel, das hat man gewusst und zu Anbeginn der Zeiten hat man es auch befolgt. Doch als die Gier begann, die Mächtigen zu beherrschen, lag es in ihrem Interesse, die Menschen die Wahrheit vergessen zu lassen. Man redete ihnen ein, sie seien die Herrscher über die Welt und sie könnten mit der Erde machen, was sie wollten. Das taten sie dann auch, aber zu welch einem Preis, einen den die Schwachen bezahlen mussten! Glaube mir, einer bestimmten Clique wurde kein Haar gekrümmt, sie haben alle überlebt, oder fast alle. Aber das weißt du ja, du wärst ja sonst nicht hier.«
»Wenn dieses Wissen auch früher schon vorhanden war«, meinte Effel, »dann ist Wissen allein demnach keine Garantie für rechtes Handeln.«
»Schön wäre es, Effel, dann hätten wir jetzt jedenfalls Zeit und Muße für schönere Dinge. Ich wäre bei meiner Familie, könnte lesen und all die Dinge tun, die das Leben lebenswert machen.«
»Aber was ist mit dem Ewigen Vertrag, wurde der nicht geschlossen, um den Überlebenden die Möglichkeit zu geben, das Leben zu wählen, das sie für richtig hielten?«
»Effel, nichts was Menschen machen, ist ewig. Dieser Vertrag wurde geschlossen aus der Not der Stunde, also nicht ganz freiwillig. Man brauchte einfach Zeit, denn man hatte den Lauf der Dinge unterschätzt. Jetzt ging es erst einmal darum, sich zumindest einen Teil zu sichern. In der Geschichte der Menschheit sind die meisten Verträge gebrochen worden. Wir Krulls kennen zum Beispiel gar keine Verträge. Wenn ein Krull in etwas einwilligt, dann genügt sein Wort. Das ist dann für ihn und seinen Clan bindend. Aber ist es bei euch Kuffern inzwischen nicht ähnlich?«
»Doch, bei meinem Hausbau habe ich mit dem Nachbarn, der mir das Holz lieferte, auch alles per Handschlag erledigt. Und so wird es immer bei uns gemacht. So lange ich mich erinnern kann, war es nie anders.«
»Na siehst du, ein Teil der Menschheit hat etwas gelernt. Das Wort eines Mannes muss reichen, das ist doch Vertrag genug. Ich hoffe, dass die Menschen mehr gelernt haben, als das. Das, was ihr die Große Katastrophe nennt, war nicht die erste ihrer Art. Es kam damals einiges zusammen. Genauer gesagt kamen drei Gruppen zusammen. Einmal die Wirtschaftsmagnaten, deren Gier keine Grenzen kannte, dann eine gewisse politische Klasse, deren Heil in der militärischen Aufrüstung lag, und schließlich noch die religiösen Fanatiker, die es für ihre Aufgabe hielten, eine Weltordnung nach ihren Wertvorstellungen nötigenfalls herbeizubomben. Eine wahrhaft unselige Allianz. Schlimm war es dann, als die Politik religiosiert wurde. Man machte den Menschen weis, im Auftrag Gottes zu handeln. So kam es, wie es kommen musste.
Die Menschen hatten irgendwann einfach nur noch Angst. Die Attentate häuften sich, die Kriege mehrten sich und in solchen Zeiten wurde der Ruf nach einer starken Händen immer lauter.
Und die gab es ja auch. Man versprach Schutz vor den Attentätern und lenkte so von den wahren Problemen ab.
Angst manipuliert am besten. Wenn ein Mensch von Angst erfüllt ist, wird er leicht zum Opfer jeder Art von Beeinflussung, weil er in diesem Moment die Verbindung zu sich selbst verliert. Was nicht gesehen wurde, oder gesehen werden durfte, war die Tatsache, dass auch die Täter Opfer waren, denn auch sie hatten Angst.
Menschen fügen anderen Menschen Schmerzen zu, wenn sie Angst haben. Je mehr Schmerzen ein Mensch einem anderen zufügt, desto größer ist die Angst in seinem Inneren. Solche Ereignisse, ihr nennt sie Katastrophen, hat es andererseits aber immer wieder gegeben. In den Zivilisationen aller Zeiten. Nach einer rasanten Entwicklung in Wissenschaft und Technik wurden die Menschen überheblich und überschätzten sich und ihre Fähigkeiten. Sie gingen an dem Plan vorbei. So bekamen sie, oder gaben sich selbst, egal wie man es sieht, eine neue Chance. Es sollte dadurch wohl die Spreu vom Weizen getrennt werden.«
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