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Im Juni 2021 einigten sich die Innenminister der Länder auf einen Erlass, in dem die Reichskriegsflaggeals eine Gefahr für die öffentliche Ordnung angesehen wird, wenn sie eingesetzt wird, um bewusst an die Fahnenaufmärsche der Nationalsozialisten zu erinnern, bei ihrem Hissen ausländerfeindliche Lieder gesungen werden oder sie bei paramilitärisch anmutenden Versammlungen verwendet wird. Hintergrund der Entscheidung ist, dass die Reichskriegsflagge in der jüngsten Vergangenheit von rechtsextremistischen Gruppen bei Versammlungen immer öfter als Symbol und Ersatz für die verbotene Hakenkreuzfahne verwendet wurde. Zur Frage, ob die öffentliche Sicherheit tangiert ist s. o. RN 25.
39b
Dass „wildes Plakatieren“, das Bemalen von Flächen oder das Anbringen von Graffitidie öffentliche Ordnung tangiert, ist nicht ersichtlich (a. A. OLG Stuttgart, NVwZ 1987, 171). Fraglich erscheint auch die Annahme einer Sondernutzung (§ 16 StrG), da hier kaum der Gemeingebrauch anderer beeinträchtigt wird. Richtig ist Folgendes: Wird durch derartige Handlungen rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört (§ 303 Abs. StGB) oder das Erscheinungsbild der Sache maßgeblich verändert (§ 303 Abs. 2 StGB), kann zum Schutz der öffentlichen Sicherheit eingeschritten werden. Sind diese Tatbestände nicht erfüllt, erscheint ein Ordnungsverstoß kaum vorstellbar.
39c
Der in der Praxis häufig verwendete Begriff „Ordnungsstörungen“trägt wenig zur Lösung polizeirechtlicher Probleme bei. Soweit damit Verhalten oder Zustände beschrieben werden, die die „öffentliche Ordnung“ tangieren, ist er überflüssig. Wenn man aber den Begriff „Ordnungsstörung“ für Erscheinungen verwendet, die allein das gewünschte positive Erscheinungsbild einer Kommune trüben (z. B. das Herumlungern Jugendlicher oder Stadtstreicher), ohne dass die Gefahrenschwelle überschritten wird, erweckt man den Eindruck, als sei polizeiliches Einschreiten bereits zulässig, was aber nicht der Fall ist. Im Übrigen ist das (häufig mit der objektiven Situation nicht übereinstimmende) Sicherheitsgefühlder Bürger keinpolizeiliches Schutzgut und ebenso wenig dürfen Personen, deren soziale Situation Maßnahmen des Sozialstaates herausfordert, zusätzlich mit den Mitteln des Polizeirechts ausgegrenzt werden.
Unter diesem Blickwinkel ist der in den letzten Jahren wiederholt vorgenommene Versuch mancher Kommunen, gestützt auf das Merkmal „öffentliche Ordnung“, unerwünschten Verhaltensweisen „im Kampf gegen die urbane Unordnung“ im Wege einer entsprechenden Polizeiverordnung entgegenzutreten, mit einer gewissen Skepsis zu betrachten.
6. Gefahr
a) Begriffsbestimmung
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Eine Gefahr ist eine Sachlage, bei der die hinreichende Wahrscheinlichkeitbesteht, dass in absehbarer Zeitein Schadenfür die Schutzgüterder öffentlichen Sicherheit oder Ordnung eintreten wird. Kurz: hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadeneintritts.
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Gefahrenabwehr dient der Abwendung eines Schadens. Ein solcher ist eine nicht unerhebliche Beeinträchtigungeines polizeilichen Schutzgutes. Darin unterscheidet er sich von bloßen Belästigungen, Geschmacklosigkeiten oder Unbequemlichkeiten, die noch keine Gefahr darstellen. Die Abgrenzung ist nicht immer einfach, zumal sich aus Belästigungen – je nach Ort, Zeit und Intensität – ein Schaden entwickeln kann.
Beispiele:Damenboxkämpfe, Damenringkämpfe oder Damenschlammkämpfe „Oben-Ohne“ sind grundsätzlich eine Geschmacklosigkeit (VG Karlsruhe, GewArch 1978, 163; a. A. BayVGH, NVwZ 1984, 254). Das vereinzelte Bellen eines Hundes ist regelmäßig keine Belästigung, anders dann, wenn dieses ständig und evtl. auch nachts erfolgt. Zur Lärmbelästigung durch Kuhglocken vgl. VGH BW 1996, 232.
Ob eine Beeinträchtigung nicht unerheblich ist, beurteilt sich aus der Sicht des sogenannten Durchschnittsbürgers.
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Für den Schadenseintritt muss eine hinreichende Wahrscheinlichkeitbestehen. Diese liegt zwischen der bloßen Möglichkeit und der Gewissheit des Eintritts des Schadens. Wo genau im Einzelfall, ist abhängig von der Wertigkeitder zu schützenden und der Rechtsgüter, in die durch die polizeiliche Maßnahme eingegriffen wird (VGH BW, Urt. v. 28.7.2009 – 1 S 2200/2008, VGH BW, VBlBW 1982, 338, 339; 1983, 110, 112; 1989, 108, 109; NVwZ 1990, 781, 782).
Beispiele:Werden besonders hochwertige Rechtsgüter, wie das Leben oder das Grundwasser gefährdet, genügt zur Bejahung einer Gefahr in der Regel bereits die Möglichkeit des Schadenseintritts (VGH BW VBlBW 1996, 221, 222; NVwZ-RR 1996, 387, 388; vgl. aber auch VGH BW, NVwZ-RR 2002, 16). Andererseits sind z. B. bei einer Gewahrsamnahme einer Person grundsätzlich höhere Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit zu stellen.
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Ob der Eintritt eines Schadens wahrscheinlich ist, ergibt sich aufgrund einer Prognose. Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Prognose ist auf den Kenntnisstand der Polizei (subjektiver Gefahrenbegriff)im Zeitpunkt ihres Einschreitens (sogenannte Ex-ante-Betrachtung)abzustellen. Durfte die Polizei hiernach aufgrund verständiger Würdigung aller Umstände des Einzelfalles davon ausgehen, ein Schaden werde eintreten, wird ihr Handeln nicht deswegen rechtswidrig, wenn sich später – z. B. aufgrund eines neueren Erkenntnisstandes – herausstellt, dass objektiv eine Gefahr überhaupt nicht bestanden hat. Diese so bezeichnete Anscheinsgefahrist also eine ganz „normale“ Gefahr (OLG Karlsruhe, VBlBW 2000, 329).
Beispiel:Es wird festgestellt, dass der gesamte Kälberbestand im Zuchtbetrieb des Bauern H hormonbelastet ist. Daraufhin werden Kälber aus diesem Betrieb auf einem Viehtransporter vor der französischen Grenze beschlagnahmt. Eine spätere Untersuchung ergibt, dass die Kälber nicht belastet sind. Die Beschlagnahme war dennoch rechtmäßig. Die Prognoseist aufgrund von Tatsachen, allgemeiner Lebenserfahrung, polizeilichem Erfahrungswissen und aufgrund wissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse zu treffen. Ein gerichtlich nicht überprüfbarer Beurteilungsspielraum steht der Polizei hierbei nicht zu.
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Für die Praxis bedeutsam ist die Frage, ob bereits die Zugehörigkeitzu einem Personenkreis oder einer „Szene“eine von der Person ausgehende Gefahr belegt. Für Personen, die der Trinker-oder Punkerszeneangehören, wird man das nicht ohne Weiteres annehmen können, weil von diesem Personenkreis nicht zwangsläufig, ohne Hinzutreten weiterer Umstände, Gefahren ausgehen (vgl. VGH BW, NVwZ 2003, 115, 116). Hier muss also konkret ermittelt werden, ob im Einzelfall Handlungen die Gefahrenschwelle überschreiten. Demgegenüber hat die Rechtsprechung die erwiesene Zugehörigkeit zur Hooligan-Szeneals Gefahr für die öffentliche Sicherheit angesehen, selbst wenn der Betroffene bisher nicht einschlägig vorbestraft ist (BayVGH, BayVBl. 2006, 671; enger VG Stuttgart, VBlBW 2007, 67, 68 f.). Nach OVG NW (DÖV 2001, 216) ist die offene Drogenszeneals kollektives Geschehen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Demnach stelle die Angehörigkeit zu dieser Szene, sei es als Drogenhändler, Drogenkonsument oder als Person, die auf sonstige Weise zur Verfestigung der Drogenszene beiträgt, eine Gefahr für dieses Schutzgut dar (vgl. auch VGH BW, VBlBW 1997, 66 ff.; OVG Bremen, NVwZ 1999, 314, 317; OVG Lüneburg, NVwZ 2000, 454; BayVGH, NVwZ 2001, 1291, 1292). Wer sich wesentliche Elemente der Reichsbürgerbewegungzu eigen macht, gilt im Hinblick darauf, dass beim Umgang mit Waffen und Munition die Belange der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zu wahren sind, wegen der Leugnung der Existenz der Bundesrepublik und ihrer Rechtsordnung als waffenrechtlich unzuverlässig; auf konkrete waffenrechtliche Verstöße kommt es dabei nicht an (OVG Lüneburg, NJW 2017, 3256; Roth, NVwZ 2018, 1772).
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