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8. Öffentliches Interesse
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Das in § 1 Abs. 1 Satz 1 erwähnte „öffentliche Interesse“ an der Gefahrenabwehr ist keingesondert zu prüfendes Tatbestandsmerkmal(missverständlich VGH BW, VBlBW 2008, 375, 377). Werden die von der „öffentlichen Sicherheit“ umfassten Schutzgüter betroffen, impliziert dieses grundsätzlich ohne Weiteres ein öffentliches Interesse am Einschreiten. Beim Schutz privater Rechte(§ 2 Abs. 2) hat der Gesetzgeber bereits von sich aus das fehlende öffentliche Interesse dokumentiert, indem er dort eine polizeiliche Zuständigkeit im Grundsatz verneint. In freier Willensbestimmung vorgenommene ausschließliche Selbstgefährdungen(z. B. Bungee-Jumping [vgl. VGH BW, VBlBW 1995, 24], Bergsteigen, Autorennen, Fallschirmspringen) sind nach Art. 2 Abs. 1 GG zulässig und können daher nicht einmal als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung angesehen werden, i. d. R. auch dann nicht, wenn sie andere zu gefährlichen Rettungsaktionen veranlassen, denn diese können dem sich selbst Gefährdenden nicht unmittelbar zugerechnet werden (a. A. VGH BW, VBlBW 1998, 25, 26 f.; VGH BW, VBlBW. 2013, 178). Ist jemand in seiner freien Willensbestimmung eingeschränkt(z. B. Kinder, Betrunkene) so darf bzw. muss die Polizei zum Schutz von Leben und Gesundheit handeln (vgl. z. B. § 33 Abs. 1 Nr. 2 b), ohne dass zusätzlich ein öffentliches Interesse zu prüfen wäre. Das Gleiche gilt – nach der in § 33 Abs. 1 Nr. 2 c zum Ausdruck gekommenen Wertung des Gesetzgebers – für die Selbsttötung, ohne dass es hier darauf ankäme, ob dieser frei willensbestimmt ist oder nicht.
9. Sonstige Aufgaben der Polizei (Abs. 2)
a) Übertragung durch Gesetz oder Rechtsverordnung
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Neben der Aufgabe der allgemeinen Gefahrenabwehr (Abs. 1) hat die Polizei die ihr durch andere bundes- oder landesrechtliche Rechtsvorschriften (Gesetz oder Rechtsverordnung)übertragenen Aufgaben wahrzunehmen (Abs. 2). Eine Übertragung durch Satzung oder Verwaltungsvorschrift ist nicht zulässig. Die Aufgabe kann eine solche zur (speziellen) Gefahrenabwehr sein, sie kann aber auch andere Inhalte aufweisen. In jedem Fall bestimmen sich die formellen und materiellen Rechtmäßigkeitsanforderungen polizeilicher Maßnahmen zunächst nach dem speziellen Gesetz. Zur Frage, ob darüber hinaus ein Rückgriff auf die Vorschriften des Polizeigesetzes geboten und zulässig ist, s. u. RN 54und § 3, RN 4.
b) Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten
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Dass die sonstigen der Polizei zugewiesenen Aufgaben kein unbedeutendes „Anhängsel“ sind, wird bei den Aufgaben Strafverfolgung und Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten sichtbar. So ist z. B. die Kriminalpolizei ausschließlich in diesem Bereich tätig (§ 23 Abs. 2 DVO PolG). Strafverfolgung und die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten sind repressiv, sie knüpfen an eine begangene Straftat bzw. Ordnungswidrigkeit an, dienen dazu, den, der schuldhaft eine Tat begangen hat, seiner Bestrafung oder Buße zuzuführen und sind damit im Wesentlichen vergangenheitsorientiert. Das unterscheidet sie von der präventiven Gefahrenabwehr, die bevorstehende Schadensereignisse verhindern will und bei der die Schuld des Verursachers an der Entwicklung des Geschehens grundsätzlich ohne Bedeutung ist. Die Gesetzgebungskompetenz für das Strafverfolgungsrecht und das Ordnungswidrigkeitenrecht liegt beim Bund (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG).
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Nach § 160 Abs. 1 StPO hat die StaatsanwaltschaftStraftaten zu erforschen. Zu diesem Zweck kann sie Ermittlungen selbst vornehmen oder durch den Polizeivollzugsdienst vornehmen lassen (§ 161 StPO). Regelmäßig wird der Polizeivollzugsdienst jedoch aufgrund eigener Initiative zur Erforschung von Straftaten tätig – Recht des ersten Zugriffs (§ 163 Abs. 1 StPO). Die §§ 161 und 163 Abs. 1 StPOsind lediglich Aufgabenzuweisungsnormen. Welche konkreten Maßnahmen dem Polizeivollzugsdienst im Ermittlungsverfahren zustehen, ergibt sich ausschließlich aus den Befugnisnormen der StPO, d. h., ein Rückgriffauf die Generalklausel des Polizeigesetzesoder auf andere seiner Befugnisnormen ist – selbst bei Regelungslücken in der StPO – ausgeschlossen. Eine Ausnahmebesteht hinsichtlich der Vorschriften zum unmittelbaren Zwang: weil die StPO über die Art und Weise seiner Anwendung keine Aussage enthält, ist es zum Zwecke einer rechtsstaatlichen Begrenzung dieses Mittels gerechtfertigt, die §§ 64 ff. entsprechend heranzuziehen.
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Präventiveund repressivepolizeiliche Tätigkeitvoneinander abzugrenzenist nicht immer ganz einfach, da sie sich in ihrem äußeren Erscheinungsbild häufig gleichen.
Beispiele:Die Durchsuchung einer Wohnung ist sowohl nach § 36 Abs. 2 PolG wie auch nach § 102 StPO zulässig.
Einfache körperliche Gewalt (unmittelbarer Zwang) kann der Verhütung einer Straftat, aber auch der Strafverfolgung dienen.
Entscheidend ist, wo das Schwergewichtder polizeilichen Tätigkeit nach ihrer objektiven Zweckrichtungliegt. Das ist für jeden Einzelfall gesondert zu prüfen, wobei im Ergebnis nur das eine oder andere Recht angewendet werden kann (BVerwG, NJW 1975, 893; VGH BW, VBlBW 1984, 245, 247; 1989, 16, 17; 2005, 63 f.). Eine korrekte Zuordnung zum jeweiligen Rechtsgebiet ist deshalb notwendig, weil die Rechtmäßigkeitsanforderungen unterschiedlich ausgestaltet sind. Außerdem werden Maßnahmen zur Gefahrenabwehr im Verwaltungsrechtsweg (§ 40 VwGO), solche zur Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten jedoch von den ordentlichen Gerichten (§ 23 GVG) überprüft, da der Polizeivollzugsdienst hier als Justizbehörde im funktionellen Sinn angesehen wird.
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Für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeitensind grundsätzlich die Verwaltungsbehördenzuständig (§§ 35, 36 OWiG i. V. m. §§ 1 ff. OWiZuVO). Der Polizeivollzugsdienst wird für diese entweder auf Ersuchentätig (§ 46 Abs. 1, 2 OWiG; § 161 StPO) oder er handelt aus eigener Initiativenach pflichtgemäßem Ermessen (§ 53 OWiG). Er hat hierbei grundsätzlich die gleichen Befugnisse wie im Strafverfahren (vgl. jedoch § 46 Abs. 2 bis 5 OWiG). Sofern dies ausdrücklich bestimmt ist, können auch Polizeibehörden und der Polizeivollzugsdienst zuständige Verfolgungsbehörde sein (§ 36 OWiG). In Baden-Württemberg finden sich entsprechende Bestimmungen nur für Polizeibehörden (z. B. § 2 ff. OWiZuVO).
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Bei geringfügigen Ordnungswidrigkeiten kann die zuständige Verwaltungsbehörde den Betroffenen verwarnen und ein Verwarnungsgelderheben (§ 55 OWiG). Diese Befugnis steht auch den Beamten des Polizeivollzugsdienstes gem. § 57 Abs. 2 OWiG zu.
c) Andere sonstige Aufgaben
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Zu den sonstigen Aufgaben der Polizei gehört auch die Pflicht, Amtshilfezu leisten. Darunter versteht man die Vornahme von Handlungen rechtlicher oder tatsächlicher Art durch die Polizei zur Unterstützung einer Amtshandlung der ersuchenden Behörde.
Beispiele:Eine Polizeidienststelle überlässt dem ersuchenden Straßenbauamt, das eine Straßenführung verbessern will, ihre Unfalldiagramme zur Einsicht. Die Ausländerbehörde erteilt der Sozialbehörde Auskünfte über einen sozialhilfeberechtigten Ausländer.
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