Beispiel:Ein Schüler weigert sich, einem Schulverweis nachzukommen. Der vom Schulleiter herbeigerufene Polizeivollzugsdienst „geleitet“ den Schüler vom Schulgelände.
Dagegen ist die Ordnungsgewalt des Landtagspräsidentengem. Art. 32 Abs. 2 VerfBW mit der Befugnis verbunden, selbst polizeiliche Maßnahmen zu ergreifen (BWStGH, NJW 1988, 3199, 3200).
cc) Schutz kollektiver Rechtsgüter
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Als kollektive Rechtsgüter werden solche angesehen, deren Schutz mit Rücksicht auf die Allgemeinheit, vornehmlich also auf das Leben in der staatlich organisierten Gemeinschaft, geboten ist (BVerwG, DVBl. 1974, 299 f.). Dazu zählen z. B. die öffentliche Wasserversorgung, die Volksgesundheitund die Natur und Landschaft(VGH BW, VBlBW 1987, 109, 110). Polizeilicher Schutz dieser Güter ist jedoch nur im Rahmen der vorhandenen Gesetze (z. B. Wassergesetz, Naturschutzgesetz, Infektionsschutzgesetz, Tiergesundheitsgesetz, Gentechnikgesetz, Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch) möglich, denn es ist nicht Aufgabe der Polizei, neue Standards zu setzen.
Insofern ist die eigenständige Nennung dieses Schutzgutes im Grunde überflüssig. Wenn dann sogar „die Erhaltung und Verbesserung der Reinlichkeit des öffentlichen Raums“ dem Schutzgut öffentliche Sicherheit zuzuordnen sein soll (so VGH BW, VBlBW 2006, 103, 104), ist der Weg zum kollektiven Schutzgut „Kehrwoche“ nicht mehr weit.
b) Schutzgut: Individualgüter
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Die Polizei hat auch die durch die Rechtsordnung geschützten Rechtsgüter des Einzelnenzu schützen. Zu diesen Individualrechtsgütern gehören u. a. Leben, Gesundheit, Freiheit, Würde, Ehre, Eigentum.
Beispiele:Untersagung eines sogenannten Zwergenweitwurfs, der einen Verstoß gegen die Würde des Menschen darstellt (VG Neustadt, GewArch 1992, 296).
Einschreiten gegen gesundheitsbeeinträchtigendes Hundegebell(VGH BW, BWVPr. 1975, 60; VBlBW 1982, 142; 1996, 196), lärmende Kuhglocken (VGH BW, VBlBW 1996, 232) oder gegen herumstreunende Hunde, die Unfälle verursachen können.
Untersagung der Leistung aktiver Sterbehilfezum Schutz des Lebens (VG Karlsruhe, NJW 1988, 1536; VGH BW, NVwZ 1990, 378).
Zum Betrieb eines Laserdromesangesichts der Menschenwürde s. u. RN. 36.
Soweit die Präsentation von Plastinaten Verstorbener(Ausstellung, „Körperwelten“) der (populär-)wissenschaftlichen Vermittlung anatomischer Gegebenheiten dient, sie in einem sachlichen, auch der postmortalen Würde des Toten angemessenem Rahmen stattfindet und das sittliche Empfinden der Allgemeinheit nicht beeinträchtigt wird, widerspricht sie nicht den bestehenden bestattungsrechtlichen Regelungen, insbesondere dem § 25 BestattG (VGH BW, VBlBW 2006, 186). Ein Verbot der Ausstellung insgesamt aufgrund der §§ 1, 3 wäre daher unzulässig.
Ein durch Polizeiverordnung erlassenes Taubenfütterungsverbotdient dem Schutz des Eigentums an Gebäuden und der Abwehr von Gesundheitsgefahren (VGH BW, VBlBW 2006, 103, 104).
Schuss auf einen Geiselnehmeroder Amokläuferzum Schutz des Lebens der bedrohten Personen.
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Auch das Vermögen, d. h. die Summe aller geldwerten Rechte, gehört zu den geschützten Individualgütern.
Beispiele:Die Polizei stellt zur Sicherung einer Forderungdie Personalien des Schuldners gem. § 27 Abs. 1 Nr. 1 fest.
Zur Durchsetzung des Besitz- und Nutzungsrechts an Pkw und Garagewird ein davor parkendes Fahrzeug abgeschleppt (VG Freiburg, NJW 1979, 2060).
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Die umfassende Einbeziehung der Individualrechte in das Schutzgut „öffentliche Sicherheit“ bedeutet nicht zugleich eine umfassende Zuständigkeit der Polizei. Zum Schutz ausschließlich privater Rechtedarf nur unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 eingeschritten werden.
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Zu den Individualrechten zählen auch die staatsbürgerlichen Rechte(z. B. Wahlrecht) und die Grundrechte. Aufgabe der Polizei ist es, ihre ungehinderte Ausübungzu gewährleisten (vgl. auch § 1 Abs. 1 Satz 2).
Beispiele:Schutz einer Versammlungvor externen Störungen, Art. 8 GG (VGH BW, NVwZ-RR 1990, 602, 603). Schutz des Lebens einer obdachlosenFamilie, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, durch Beschlagnahme einer Wohnung (VGH BW, VBlBW 1985, 18). Schutz rechtmäßig Streikender, Art. 9 Abs. 3 GG, vor Übergriffen von Streikbrechern. Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts(Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG) durch Beschlagnahme einer Bildaufnahme, die unbefugt hergestellt wurde (VBlBW 1995, 282, 283; 2008, 375).
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Bei ausschließlichen Selbstgefährdungenliegt grundsätzlich keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit vor, sodass sich ein polizeiliches Eingreifen verbietet (Näheres s. u. RN 51).
c) Schutzgut: Güter, die durch Normen des Straf-, Ordnungswidrigkeiten- oder Verwaltungsrechts geschützt sind
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Prinzipiell stellt jeder (drohende) Verstoß gegen Normen der Rechtsordnung eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit dar. Folgende Einschränkungensind aber geboten: Sofern Rechtsgüter ausschließlich durch Normen des Privatrechtsgeschützt sind, ist die Polizei nur subsidiär unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 zuständig. Außerdem ist es nicht Sache der Polizei, bei jeder Verletzung einer Norm des öffentlichen Rechtseinzuschreiten. Polizeirechtlich relevant sind lediglich Verstöße gegen die normativen Ge- oder Verbote des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts und des Verwaltungsrechts (VGH BW, NVwZ 1994, 1233, 1234).
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Schutz der Strafgesetze und Ordnungswidrigkeitentatbestände bedeutet vorbeugende Verhütungvon Straftaten und Ordnungswidrigkeiten (nicht zu verwechseln mit der „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“, s. u. RN 46).
Beispiele:Untersagung der Nutzung von Räumen, in denen ein bordellartiger Betriebunter Verstoß gegen § 180 a Abs. 1 Nr. 2 StGB oder gegen § 184 a StGB bzw. § 120 OWiG unterhalten wird (VGH BW, NVwZ-RR 1990, 413; VGH Kassel, NVwZ-RR 1993, 302, 303).
Beschlagnahme eines Transparentes, durch das eine ausländische diplomatische Vertretung beleidigt (§ 103 StGB) wird (BVerwGE 64, 55). Dagegen erfüllt das bloße Mitführen oder Hissen der Reichskriegsflaggeweder den Straftatbestand des § 86 a StGB noch den des § 130 StGB. Ein Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit ist also nicht gegeben (OVG Münster, NJW 1994, 2909). Zum möglichen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung s. u. RN 39. Verbot der Hundehaltungwegen ständigen Bellens als Verstoß gegen § 117 OWiG (BVerwG, NVwZ 1993, 268).
Zur Frage, ob das Läuten von Kuhglockenden objektiven Tatbestand des § 117 OWiG erfüllt, vgl. VGH BW 1996, 232. Zur Strafbarkeit des Bettelns s. u. RN 37.
Die Kontaktaufnahme von Freiern zu Prostituierten im Sperrbezirkist als solche kein Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit, denn der Freier ist nach h. L. weder Beteiligter (§ 14 OWiG) noch Teilnehmer (§ 25 StGB) an der verbotenen Ausübung der Prostitution (§ 120 OWiG, § 184 d StGB), sondern strafloser „notwendiger Gehilfe“ (vgl. aber auch RN 35). Sprechen allerdings Freier auch unbeteiligte Frauen und Mädchen – in der irrigen Annahme, es handele sich um Prostituierte – auf die Erbringung von sexuellen Leistungen an, so erfüllen sie den Straftatbestand der Beleidigung (§ 185 StGB) und beeinträchtigen zudem die geschützte Ehre der Frauen – Art. 2 Abs. 1, Art. 1 Abs. 1 GG (vgl. VGH BW, VBlBW 2001, 142, 144).
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