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Die Aufgabe der Gefahrenabwehr obliegt „der Polizei“, das heißt Polizeibehörden und Polizeivollzugsdienst in gleicher Weise (vgl. §§ 104 ff.). Aus dieser gemeinsamen Aufgabenzuständigkeitkann aber nichtauf eine gemeinsame Ermächtigunggeschlossen werden. Letztere ist vielmehr den jeweiligen Befugnisnormen selbst zu entnehmen. Diese ermächtigen zum Teil ausschließlich die (allgemeinen) Polizeibehörden (z. B. §§ 17, 39), zum Teil ausschließlich den Polizeivollzugsdienst (z. B. §§ 41, 43 Abs. 3, 44, 45, 47–56, 65–69) und häufig beide (z. B. §§ 3, 43 Abs. 1, 2 und 4, 27–30, 33–38, 59 Abs. 1, 63), wobei in diesen Fällen die Zuständigkeitsabgrenzung nach § 105 vorzunehmen ist.
3a
Der Begriff „Polizei“ ist inhaltlich mehrdimensional: Als Polizei im institutionellen(organisatorischen) Sinne sieht man die Stellen an, die zur Institution (Organisation) der Polizei gehören. Das sind in BW gem. §§ 104 ff. die Polizeibehörden und der Polizeivollzugsdienst mit seinen Beamten. Beide sind gemeint, immer wenn das Polizeigesetz die Polizei anspricht. Auf andere Bundesländer lassen sich die vorstehenden Ausführungen nicht ohne Weiteres übertragen, weil das dortige Recht zum Teil andere Organisationsmodelle kennt.
3b
Polizei im formellenSinne bezeichnet die Summe aller Tätigkeiten, die in den Aufgabenkreis der Polizei fallen. Neben der Gefahrenabwehr gehören dazu die anderen Zwecken dienenden Aufgaben, wie z. B. die Verfolgung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten. Einen Hinweis auf den formellen Polizeibegriff gibt § 1 Abs. 2.
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Unter Polizei im materiellenSinne (hier geht es um den spezifischen Inhalt polizeilichen Handelns) versteht man die Tätigkeit, die auf die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung gerichtet ist. Diese Aufgabe wird der Polizei allgemein durch § 1 Abs. 1 zugewiesen, d. h., Polizeibehörden und Polizeivollzugsdienst haben prinzipiell dieselbe Aufgabe. Wie sich aus § 2 Abs. 2 ergibt, können allerdings auch andere, nichtpolizeiliche Stellen mit der Aufgabe der Gefahrenabwehr betraut sein.
Zur Gefahrenabwehr durch andere, nichtpolizeilicheStellen, vgl. die Erläuterungen zu § 2 Abs. 1.
4a
Ausgangspunkt für den Begriff „ Polizeirecht“ ist der materielle Polizeibegriff: Polizeirecht ist das Recht der Gefahrenabwehr. Als allgemeinesPolizeirecht bezeichnet man die Normen und Grundsätze, bei denen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung den alleinigen und unmittelbaren Gesetzeszweck bildet. Es hat in Baden- Württemberg seinen Niederschlag im Polizeigesetz gefunden. Das besonderePolizeirecht regelt dagegen Gefahrenabwehr in speziellen Lebensbereichen, wobei die entsprechenden Gesetze häufig auch andere Zwecke verfolgen. Zum besonderen Polizeirecht zählt man z. B. Abfallrecht, Aufenthaltsrecht, Bauordnungsrecht, Bodenschutzrecht, Gewerbe- und Gaststättenrecht, Immissionsschutzrecht, Katastrophenschutzrecht, Seuchenrecht, Straßenverkehrsrecht, Versammlungsrecht und das Wasserrecht. In der Praxis hat das besondere das allgemeine Polizeirecht in vielen Bereichen verdrängt. Letzterem kommt heute nur noch eine Reservefunktion zu.
3. Die Schutzgüter der Gefahrenabwehr
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Schutzgüter der Gefahrenabwehr sind – wie in fast allen anderen Bundesländern auch – die „öffentliche Sicherheit oder Ordnung“. Bei diesen Begriffen handelt es sich um unbestimmte Rechtsbegriffe, die vor der Subsumtion einer Auslegung bedürfen. Ein Beurteilungsspielraumsteht der Polizei hierbei nichtzu, d. h., Auslegung und Subsumtion unterliegen voll der gerichtlichen Kontrolle. Öffentliche Sicherheit und öffentliche Ordnung sind alternativeSchutzgüter (§ 1 Abs. 1: „oder“). Zunächst ist das Merkmal „öffentliche Sicherheit“ zu prüfen. Wird dieses bejaht, erübrigt sich ein Eingehen auf das Merkmal „öffentliche Ordnung“. Nur wenn ein Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit nicht vorliegt, bleibt Raum zur Prüfung des Merkmals „öffentliche Ordnung“. Die häufig anzutreffende Praxis, Maßnahmen undifferenziert auf beide Merkmale zu stützen, ist nicht nur dogmatisch zweifelhaft, sie führt häufig auch zu falschen Ergebnissen.
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Trotz der außerordentlichen Weite des Inhalts der Begriffe „öffentliche Sicherheit“ und „öffentliche Ordnung“ wird ihre Vereinbarkeitmit dem Bestimmtheitsgebot und damit mit dem Rechtsstaatsprinzipangenommen, weil sie seit langer Zeit durch Lehre und Rechtsprechung nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend präzisiert seien (BVerfGE 54, 143, 144; BVerwG, NVwZ 2002, 598; 2007, 1439, 1440) – eine Auffassung, die hinsichtlich des Begriffs „öffentliche Ordnung“ jedoch nicht uneingeschränkt geteilt wird ( s. u. RN 32, 33).
4. Das Schutzgut „öffentliche Sicherheit“
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Die heute gängige Auslegung des Begriffs „öffentliche Sicherheit“ geht auf die amtliche Begründung zu § 14 des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes zurück. Schutz der öffentlichen Sicherheitbedeutet danach Schutz der durch die Rechtsordnunggeschützten Güter, wie z. B. den:
– Schutz des Bestandes des Staates, der Funktionsfähigkeit seiner Einrichtungen und Schutz kollektiver Rechtsgüter,
– Schutz von Individualgütern,
– Schutz der Güter, die durch Normen des Straf-, Ordnungswidrigkeiten- oder Verwaltungsrechts geschützt sind.
Beim Einschreiten zum Schutz der öffentlichen Sicherheit kann es immernur darum gehen, eine drohende Verletzung von Rechtsnormenabzuwehren. Rechtmäßige Handlungen und Zustände können also die öffentliche Sicherheit nicht tangieren. Gegen den, der von seinen Grundrechten, gesetzlich eingeräumten Befugnissen oder von einer behördlichen Erlaubnis Gebrauch macht, darf die Polizei nicht einschreiten. Die Verletzung von nicht durch die Rechtsordnung erfassten Gütern kann allenfalls für das Tatbestandsmerkmal „öffentliche Ordnung“ bedeutsam sein.
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Die herkömmliche Auslegung des Begriffs „öffentliche Sicherheit“ umfasst auch die in § 1 Abs. 1 Satz 2 besonders genannten Schutzgüter „verfassungsmäßige Ordnung“ und „ungehinderte Ausübung der staatsbürgerlichen Rechte“, sodass ihre Erwähnungeigentlich überflüssigist. Ebenso wenig kann daraus eine Rangfolge der Schutzgüter als Maßstab für polizeiliches Handeln abgelesen werden, denn welches Schutzgut im Kollisionsfall „vor Ort“ Vorrang genießt, kann nicht abstrakt festgelegt werden.
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Ein Blick auf die einzelnen Schutzgüter zeigt, dass die Schutzrichtung sowohl individual- als auch gemeinschaftsbezogenist. Diesen Aspekt spricht § 1 Abs. 1 Satz 1 noch einmal ausdrücklich an: „… von dem Einzelnen und dem Gemeinwesen Gefahren abzuwehren …“. Um zusätzlich zu prüfende Tatbestandsmerkmale handelt es sich hierbei nicht.
a) Schutzgut: Bestand des Staates, die Funktionsfähigkeit seiner Einrichtungen, Schutz kollektiver Rechtsgüter
aa) Schutz des Bestandes des Staates
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Schutz des Bestandes des Staates bedeutet Schutz vor Angriffen gegen die „Grundfesten“ unseres Staates und damit Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung, wie sie im Grundgesetz ihre Verankerung gefunden hat. Nichts anderes meint der Begriff „verfassungsmäßige Ordnung“ in § 1 Abs. 1 Satz 2. Diese Grundordnung ist umfassend durch die Bestimmungen des Staatsschutzstrafrechts, §§ 80 a ff., 105 ff., 109 ff., 111 ff. StGB geschützt. Eine präventive polizeiliche Tätigkeit in diesem Bereich ist also in der Regel eine solche zur vorbeugenden Verhütung dieser Straftaten ( s. u. RN 24).
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