Falls sie nicht zu ihm kam, mußte er ein Nichts bleiben. Das war eine harte Erfahrung. Aber trotz ihres wiederholten Vergessens seiner Gegenwart, trotzdem er so oft bemerkte, daß er für sie gar nicht da war, trotzdem er tobte und ihr zu entfliehen versuchte und sich sagte, er wäre sich auch allein genug, er sei doch ein Mann und könne auf eigenen Füßen stehen, angesichts des nächtlichen Sternenheeres mußte er sich erniedrigen und zugeben, daß ohne sie er ein Nichts sei.
Er war nichts. Aber mit ihr zusammen würde er wirklich sein. Wenn sie jetzt neben dem Schafstalle über das gefrorene Gras dahergeschritten käme, bei dem kläglichen Geblöke der Schafe und Lämmer, dann würde sie ihm Vollkommenheit und Vollendung bringen. Und sollte es dahin kommen, daß sie zu ihm käme! Es mußte so sein – es war so vorherbestimmt.
Lange brauchte er zu dem Entschluß, ihr die endgültige Frage vorzulegen, ihn zu heiraten. Und er wußte, fragte er sie, dann mußte sie zustimmen. Sie mußte, es konnte nicht anders sein. Er hatte manches über sie in Erfahrung gebracht. Sie war arm, alleinstehend und hatte in London harte Zeiten durchgemacht, sowohl vor wie nach dem Tode ihres Gatten. Aber in Polen war sie eine hochgeborene Dame, eines Gutsbesitzers Tochter.
Alles dies waren ihm bloße Worte, die Tatsache ihrer höheren Geburt, die Tatsache, daß ihr Mann ein hervorragender Arzt gewesen war, die Tatsache, daß er ihr in fast jeder Hinsicht an auszeichnenden Eigenschaften nachstand. Es bestand eine innere Wirklichkeit für ihn, eine seelische Folgerichtigkeit, die ihn mit ihr verband.
Eines Abends im März, als der Wind draußen heulte, kam der Augenblick, in dem er sie fragen mußte. Er hatte mit hängenden Händen vornübergebeugt vorm Feuer gesessen. Und während er ins Feuer starrte, kam ihm halb unbewußt die Gewißheit, daß er heute abend zu ihr gehen würde.
»Heste 'n reenet Hemd dor?« fragte er Tilly.
»Se weeten jo, Se hevvt reene Hemden«, erwiderte sie.
»Good –, bring mi en wittet.«
Tilly brachte ihm eins der Leinenhemden, die er von seinem Vater geerbt hatte, und hing es zum Anwärmen vors Feuer. Sie liebte ihn mit stummer, schmerzhafter Hingebung, wie er so mit den Armen auf den Knieen dasaß, still und mit sich selber beschäftigt, sie gar nicht gewahr werdend. Letzthin kam eine zitternde Sucht zu weinen über sie, wenn sie irgend etwas für ihn in seiner Gegenwart zu tun hatte. Jetzt zitterten ihr die Hände, während sie das Hemd ausbreitete. Er schalt und ärgerte sie jetzt nie mehr. Die tiefe im Hause herrschende Stille machte sie erzittern.
Er ging hin, um sich zu waschen. Sonderbare kleine Ausbrüche von klarem Bewußtsein schienen aufzusteigen und wie Blasen aus der Tiefe seines Schweigens hervorzubrechen.
»Es muß sein,« sagte er, als er sich bückte, um sein Hemd vom Fender zu nehmen, »es muß sein, wozu also drum herumgehen?« Und während er sich das Haar vor dem Spiegel an der Wand kämmte, antwortete er sich selbst obenhin: »Das Weib ist ja nicht sprachlos und stumm. Sie hängt doch nich mehr an de Titten. Sie kann tun, was sie Lust hat, und wenn's andern auch keinen Spaß macht.
Dieser Satz von gesundem Menschenverstand brachte ihn etwas weiter.
»Wee't Se wat?« fragte Tilly, die plötzlich auftauchte, da sie ihn hatte reden hören. Sie stand und beobachtete, wie er seinen hellen Bart kämmte. Seine Augen waren stetig und zwinkerten nicht.
»Jo,« sagte er, »wo hest' de Scher?«
Sie brachte sie ihm und beobachtete ihn weiter, während er mit vorgestrecktem Kinn sich den Bart stutzte.
»Scheren Se Ehr man nich, as wenn dat um't Geld gung«, sagte sie hastig. Er pustete sich das feingekräuselte Haar von den Lippen.
Er zog sich gänzlich um, knotete seine Halsbinde sorgsamst und zog seinen besten Rock an. Als er dann fertig war und das graue Zwielicht hereinbrach, ging er in den Obstgarten, um Narzissen zu pflücken. Der Wind sauste in den Apfelbäumen, die gelben Blumen schwankten heftig auf und nieder, er hörte sogar das feine Geräusch der sich aneinander reibenden Blätter, als er sich niederbeugte, um die flachen, zarten Stiele der Blumen zu brechen. »Wat is denn los?« rief ihm ein Freund, den er an der Gartentür traf, zu.
»'n Beeten fründjen,« sagte Brangwen.
Und Lilly ließ sich in einem Zustande zitternder Aufregung vom Winde über das Feld bis an den großen Torweg pusten, von wo aus sie ihn am besten beim Weggehen beobachten konnte.
Er ging den Hügel hinauf und auf das Pastorhaus zu, der Wind sauste in den Hecken, während er versuchte, den Narzissenstrauß mit seinem Körper zu schützen. Er dachte an gar nichts und hatte nur die Empfindung vom Sausen des Windes.
Die Nacht sank herab, in den nackten Bäumen pfiff und trommelte es. Der Vikar, das wußte er, würde in seinem Amtszimmer sitzen, die Polin in der Küche, einem behaglichen Raum, mit ihrem Kinde. Als das Zwielicht schon ganz matt geworden war, trat er durchs Tor und schritt den Pfad hinauf, an dem sich ein paar Narzissen im Winde niederbeugten und zerstreute Krokus ein blasses, farbloses Netzwerk bildeten.
Auf der Rückseite des Hauses strömte aus dem Küchenfenster Licht auf die Büsche. Er begann zu zögern. Wie sollte er es anfangen? Als er durchs Fenster sah, bemerkte er sie in einem Schaukelstuhl mit dem Kinde, das schon in seinem Nachthemd ihr auf dem Knie saß. Der lichte Kopf mit seinem wilden, strubbeligen Haar neigte sich gegen die Glut des Feuers, das sich auf den frischen Backen und der blanken Haut des Kindes widerspiegelte; es schien nachzudenken, fast wie ein Erwachsener. Der Mutter Antlitz war dunkel und still, und er sah mit einem schmerzlichen Zusammenzucken, daß sie wieder in dem Dasein von ehemals weilte. Das Haar des Kindes glänzte wie gesponnenes Glas, sein Gesicht war beleuchtet, so daß es aussah, als wäre es von innen erleuchtetes Wachs. Der Wind brauste mächtig. Mutter und Kind saßen regungslos, still, das Kind mit den leeren dunklen Augen ins Feuer starrend, die Mutter mit dem Blick ins Nichts. Das kleine Mädchen schlief fast schon. Nur sein Wille hielt ihm die Augen noch offen.
Plötzlich sah es sich voller Unruhe um, als ein Windstoß das Haus erschütterte, und Brangwen sah, wie die kleinen Lippen sich bewegten. Die Mutter begann sie zu schaukeln, er hörte das leise Scharren der Wiegehölzer des Stuhles. Dann hörte er das leise, eintönige Summen eines Liedes in fremder Sprache. Dann ein mächtiger Ansturm des Windes, und die Mutter schien fortgeweht, die Augen des Kindes waren weit geöffnet und schwarz. Brangwen sah zu den Wolken empor, die in wilder, erschreckender Hast über den dunklen Himmel dahinfuhren.
Dann kam des Kindes hohe, klägliche und dennoch befehlende Stimme.
»Sing nicht so'n Krams, Mutter, das mag ich nicht hören.«
Das Singen erstarb.
»Nun wirst du zu Bett gehen«, sagte die Mutter.
Er sah, wie das Kind sich widerstrebend anklammerte, die unbewegte Geistesabwesenheit der Mutter, die klammernden, heftigen Bemühungen des Kindes. Dann plötzlich die helle, kindliche Aufforderung:
»Du sollst mir eine Geschichte erzählen.«
Der Wind brauste, die Geschichte nahm ihren Anfang, das Kind schmiegte sich an die Mutter. Brangwen wartete draußen in der Schwebe und blickte in das wilde Schwanken der Bäume im Winde und die zunehmende Finsternis hinaus. Er wußte, was seine Bestimmung wäre, und wartete hier auf der Schwelle. Das Kind verkroch sich, hell und bewegungslos, es schmiegte sich an die Mutter, die Augen scharf und dunkel unter den hellen Haarsträhnen, wie ein zusammengekauertes Tier, an dem alles schläft bis auf die Augen. Die Mutter saß da wie überschattet, die Geschichte nahm ihren Verlauf wie von selber. Brangwen stand draußen und sah die Nacht hereinbrechen. Er merkte gar nicht, wie die Zeit verrann. Seine Hand, die die Narzissen hielt, war steif und kalt.
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