Georg Engel - Der Reiter auf dem Regenbogen

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An der Ostseeküste bei Stralsund wächst bei seiner Mutter, der Kapitänswitwe Petersen, der junge Gust heran. Am Gymnasium hat er es nicht leicht, denn er ist ein aufrührerischer Geist, der offen seine Meinung kundtut. Er fühlt sich zu der ernsten, tiefsinnigen Martha hingezogen, aber vorerst hat die kapriziöse Toni mehr Erfolg bei ihm. Mit ihr zusammen, die Schauspielerin werden will, wagt er einen Ausbruchsversuch, der aber nur kurze Dauer hat. Seinen Lebensunterhalt verdient er in einem Antiquitätengeschäft, dessen Enge ihn aber auch bald bedrückt. Seine Jugendfreundin Martha, inzwischen verheiratet mit dem jungen Landrat Malte von Zingst, verschafft ihm die Stelle eines Privatsekretärs bei ihrem Mann. Unüberwindlich scheinen die Probleme der armen Fischerdörfer an der Küste, mit denen der Landrat zu kämpfen hat. Es bricht eine Sturmflut los, der schützende Deich droht zu brechen und der Landrat wirft sich mitten ins Geschehen, um den Fischern beizustehen …-

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Georg Engel

Der Reiter auf dem Regenbogen

Roman

Saga

Erstes Buch

I.

„Hast Du das Deine auch ordentlich gelernt?“ fragte Mudding Petersen und strich sich das rotblonde Haar aus dem breiten, dickbäckigen Gesicht. Aber während sie an der kleinen, grünbeschirmten Lampe schraubte, damit ihr Sohn, der mit hoch aufgestemmten Armen dort las, besser sehen könne, setzte sie mit leiser Aufmunterung hinzu:

„Aber du musst wohl bald mehr können als all die andern. Denn deinen Kopf, den hast du von deinem sel’gen Vater. Und der hatte es weit gebracht in den Wissenschaften. Er konnte die Mondberechnung aufnehmen, auch ohne seinen ersten Offizier. Das konnten nur wenige von den alten Kapitänen. Ja, mit den Zahlen stand er sehr vertraut. Und dann hatte er auch Französisch gelernt aus einer Fibel. Und von den fremden Matrosen hier im Hafen hatte er sich die Schiffsausdrücke und die Flüche aus noch drei weiteren Sprachen angenommen. Jammerschade, dass du dich nicht auf ihn besinnen kannst, mein Sohn. Aber nun, mein Jünging, nun hör auf und leg dir dein Buch unter das Kopfkissen. Was du jetzt noch nich weisst zu dem Examen, das wird dir wohl im Traum kommen. Ich glaub daran, es passiert noch viel Wunderbares in der Welt — ja, ja, ich weiss davon so manches.“

Damit stand die sonderbar starke Frau, die sich trotz ihrer fünfzig Jahre nur schwerfällig fortbewegen konnte, aus ihrem grünen Ripsstuhle auf, ging um den alten, kreisrunden Mahagonitisch herum und streichelte dort dem jungen, vertieften Menschen ganz sacht über die rote, buschige Mähne.

Und seltsam. Die Berührung ihrer kleinen, zarten Hände, die so garnicht zu dem wuchtigen Körper zu passen schienen, musste etwas Erlösendes oder Erweckendes besitzen.

Er reckte die schmale, jungenhafte Gestalt und hob das sommersprossige Gesicht, in welchem im Augenblick die Furcht vor der Zukunft brannte.

„Du, Mutter?“ fragte er erstaunt, als ob sein Geist aus ungeheuren Weiten zurückkehre.

O, er war sehr hässlich, aber die Mutter, die beste, die es je gegeben, ahnte es nicht.

„Ja, ich, mein Jünging,“ erwiderte sie mit ihrem breiten, aufmunternden Lachen, wobei sie ihm fast unmerklich über die Schulter strich, als wolle sie ihm auch von da die unsichtbare Last fortnehmen. „Pass mal auf, wie gut es dir bei den Professoren gehen wird.“ Und dabei nahm sie ihm das Buch verloren fort und klappte es sachte zu: „Du bist nämlich ein Glückskind,“ fuhr sie fort und schob geschäftig einen Teller Schinken, sowie eine Flasche alten Rotwein, wie ihn die Seefahrer der dortigen Gegend oft einzuschmuggeln pflegen, vor ihren Einzigen hin.

Dann setzte sie sich ihm gegenüber, so dass die flimmernden Strahlen der Lampe eine Brücke zwischen ihnen bilden konnten. Und siehe da — alsbald begannen die Gedanken der beiden einander entgegenzuziehen. Zu Fuss und zu Ross. In Gold und in Seide. Aber immer geschmückt. Herrliche Triumphzüge, die in die Zukunft wallten.

Draussen rollte der Fluss, und der Oktoberregen spritzte gegen die Häuser der Münd-Stadt.

„Du bist nämlich ein Glückskind, Gust,“ begann Frau Miete Petersen wieder, indem sie dem Lauschenden rasch ein Glas Wein einschenkte. „Sieh, dass du erst im zehnten Jahre unserer Ehe geboren wurdest, und zwar sieben Stunden nach dem wunderbaren Traum, davon will ich garnich reden. Aber dass du gerade an einem Sonntag Mittag Schlag 12 zur Welt kamst, und noch dazu —“ hier sank die Stimme der Sprechenden zu einem Flüstern herab, und in ihren weiten, blauen Augen zündeten sich geheimnisvolle Feuer an, „und noch dazu in demselben Augenblick, als dein lieber Vater den letzten Seufzer ausstiess, sieh, das hat etwas zu bedeuten. Das lass ich mir nich ausreden. Auch von Tante Betti nicht; nein, daran halte ich fest.“

„Ja, Mutter,“ hob nun auch Gust an, und in dem schmalen Jungengesicht, aus dem die Backenknochen so eckig hervorstanden, begann ein merkwürdiges Spiel der Muskeln, „manchmal glaub ich auch, es sei etwas in mir — — das —“

„Ja, natürlich steckt es in dir,“ unterbrach ihn die dicke Frau und schlug herausfordernd auf den Tisch.

„Etwas — etwas, Mudding — was nicht so ist wie bei den andern — nicht wahr? Glaubst du das nicht auch?“ forschte er dringender, indem er seine Rechte fast bittend auf die Hand von Frau Miete legte. „Etwas, Mudding, etwas, das nach oben will.“

„Ja, ja, natürlich, sehr — sehr hoch.“

„Und dann, Mudding, wenn es erst so weit ist, wenn erst die Examina hinter mir liegen, ich habe gar keine Furcht vor übermorgen — — gar keine.“ —

Sie schüttelte ebenfalls stark verneinend das Haupt, als wäre es ganz unfassbar, wovor ein Mensch wie er Furcht empfinden könnte. „Reines Kinderspiel.“

„Sieh, wenn ich erst ein Lehramt in der Stadt habe“ — hier stockte sein Atem doch, und er streichelte erregt die Glocke der Lampe — „am Gymnasium vielleicht, oder eine Professur.“

„Lieber eine Professur,“ echote Frau Miete Petersen, der es gleichfalls an Atem gebrach.

„Dann, Mudding — komm, hier hast du auch ein Glas Wein, wir wollen anstossen — dann miete ich das schöne gotische Haus am Markt, und lasse unten ein Messingschild vor die Türe schlagen, mit schrägen Ecken und nichts als ‚Professor Petersen‘ darauf.“

„Das tu,“ gab sie zu, indem sie sich die Hand auf die mächtige Brust legte, „aber es muss auch deutlich zu lesen sein.“

„Versteht sich — und in dem Saal im ersten Stock, da schlage ich meine grosse Bibliothek auf. Tausend Bände — Kuck, zweiundvierzig Bücher hab’ ich jetzt schon. Und nebenan, da bekommst du ein Wohnzimmer aus grünem Damast.“

„Grün nicht,“ wehrte sie sich, „du musst nicht immer so geschmacklos sein, Gust, man nimmt jetzt braunrot.“

„Das ist egal — Komm, Mudding, stossen wir eins darauf an.“

Rasch und feurig streckten sie sich die Gläser entgegen. Es gab einen hellen Ton.

Kling — klang.

Dann starrten sie wieder begeistert auf die Lichtbrücke.

Und siehe da, über die flimmernde Bahn zogen lautsingende Prozessionen. Fürstenthrone wurden hinübergetragen und Kaiserkronen blitzten.

Kling — klang.

Das Buch fiel unbemerkt unter den Tisch.

Draussen rollte der Fluss, und der Oktoberregen spritzte gegen die Häuser der Münd-Stadt.

„Ihr gebt wohl eine Gesellschaft?“ fragte Tante Betti, die in diesem Moment durch die niedrige, weisse Tür trat, nachdem es vorher im Hausflur schrill geläutet hatte, was aber von Mutter und Sohn überhört worden war.

„Sieh, ordentlich Wein? — Wenn ihr vielleicht allein sein wollt, dann — —“

Hier wurde eine rasche, ruckartige Bewegung nach der Schwelle zu ausgeführt, welche anzeigen sollte, dass Tante Betti, da man sie zu diesem Gelage nicht formell eingeladen, durchaus bereit sei, mit hochmütig in den Nacken geworfenem Haupte wieder in dem Regen zu verschwinden. Allein dieser Entschluss konnte zum Glück vereitelt werden.

Die dicke Frau Petersen griff nämlich mit ihren zarten Händen nach dem durchnässten Umhang ihrer Schwägerin, während es Gust gelang, mit einer geschickten Bewegung einen Stuhl hinter die dürre Gestalt seiner Verwandten zu schieben.

„Hier, Tante.“

Und die Frau Kapitän Petersen setzte mit ihrer tiefen, beinahe männlichen Stimme hinzu: „Du weisst doch, Betti, worum es sich übermorgen für Gust handelt.“

„Eben darum,“ entgegnete Fräulein Betti strafend, wobei sie, bereits sitzend, ihre Gestalt straff aufrichtete, um an den beiden von oben herab zu beobachten, ob ihr auch genügend Respekt entgegengebracht würde.

Dieser vornehme Hochmut war die markanteste Seite von Tante Betti. Als die jüngste von sechs Schwestern, die vor ihr verheiratet werden mussten, in dem alten Schifferhause zurückgeblieben, suchte sie jetzt ihr altes Jungferntum und ihre fünfzig Jahre durch eine Fülle von Ehrungen zu vergolden, die sie gebieterisch von der nachwachsenden Familie einforderte. Dabei scheute sie sich nicht im geringsten, einen strahlenden Mantel von Ovationen um sich herum zu dichten, die ihr angeblich von wildfremden Personen dargebracht worden sein sollten, hervorragenden Menschen, die eben Bettis inneren Wert, ihre noch blühende Schönheit, ihren Verstand, besonders aber ihr vornehmes Wesen viel besser zu schätzen wussten, als die verstockten Nächsten des späten Fräuleins.

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